Großmaul. „Bréng mir w.e.g. eng gutt, kal Spruddeleg“, sagt Frank Engel zu seinem Assistenten. „Oder bréng der gläich zwou.“ Er zeigt auf die schwarze Couch in seinem Büro. Es befindet sich im fünften Stockwerk gleich unter dem Dachboden. Durch ein Fenster lassen sich die Schieferdächer der Oberstadt betrachten. An der Wand hängen drei Masken, die offensichtlich afrikanischen Ursprungs sind, in der Ecke steht eine mobile Klimaanlage. „Ein Hammerteil“, so Engel. „Wenn ich es starte, macht der Lärm hier alle verrückt.“
Der CSV-Parteipräsident ist sichtlich gelassen. Er hat guten Grund dazu. Das Sommerloch ist eine der wenigen Phasen, in denen die Nationalpolitik zur Ruhe kommt. Regierung, Parlament, Parteigremien, Medien – der ganze Politbetrieb steht auf Standby. Doch es gibt noch einen weiteren, einen triftigeren Grund für Engels Gelassenheit. Seit wenigen Wochen herrscht so etwas wie Normalität in seiner Partei.
Das galt lange unter Engel als undenkbar. Denn Engel war bereits angezählt, als er das Amt im Januar übernahm. Er setzte sich denkbar knapp gegen den Kontrahenten Serge Wilmes und den Missmut mancher Parteihonoratioren durch. Das „Großmaul aus Brüssel“ habe die Partei gekapert, so die Deutung mancher CSV-Granden. Und so folgte Anfang des Jahres eine mehrwöchige Posse zwischen Engel und seinen innerparteilichen Kontrahenten, die auch in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Für manche war der Konflikt lediglich Ausdruck des desolaten Zustands der Partei. Die alte Dame der Luxemburger Politik, ewige Rekordwahlsiegerin, musste zum wiederholten Mal eine Wahlniederlage hinnehmen. Das traf die Partei nicht nur tief ins Mark, sondern besiegelte auch das Ende des CSV-Staats. Engel übt sich heute in Understatement, will die damalige Lage nicht überbewerten. Vieles sei „nur medial hochgekocht“ worden. „Die Partei lag nie in Trümmern.“ Tatsächlich aber gaben manche Journalisten und Parteimitglieder Engel lediglich sechs Monate. „Nach den Europawahlen ist er weg“, mutmaßte ein CSV-Fraktionsmitglied zu Beginn des Jahres.
Doch Engel blieb – trotz erneuter Wahlschlappe für die CSV. Die Partei verlor bei den Europawahlen im Mai nicht nur einen Sitz, sondern erhielt erstmals weniger Stimmen als die Demokratische Partei (DP). Mit seiner Liste aus Nobodys habe sich Engel „verpokert“, so das Urteil von Viviane Reding auf Radio 100,7 im Juli. Die Schuldfrage war geklärt. Der Putsch blieb jedoch aus. „Aus Gründen des Selbsterhaltungstriebs“, so die Erklärung eines Engelkontrahenten. Niemand wollte das Wagnis eingehen, den unberechenbaren Präsidenten zu stürzen.
Kontrahentin. Für Fraktionspräsidentin Martine Hansen war der Engelsturz hingegen nie ein Thema. Die junge CSV-Liste trage zwar die Handschrift des Präsidenten, aber sie wurde vom ganzen Nationalkomitee verabschiedet. „Da steckten wir alle gemeinsam drin“, sagt Hansen.
Auch sie ist wie Engel eine Nutznießerin des Niedergangs der alten CSV. Am Tag nach den Nationalwahlen im vergangenen Herbst erhielt sie einen Anruf. „Willst Du nicht Parteipräsidentin werden?“, so das Angebot. Sie lehnte ab. Als Quereinsteigerin von Junckers Gnaden sah sie sich nicht in der Lage, die 10 000 Mitglieder der Volkspartei zu führen. Aber Hansen witterte dennoch den Karrieresprung. Das Amt der Fraktionsvorsitzenden traue sie sich durchaus zu, so ihre Gegenofferte.
Hansen wurde nicht vorbehaltlos in ihr neues Amt gewählt, auch das hat sie mit Engel gemein. Als einzige Kandidatin für den Fraktionsvorsitz erhielt sie 15 Ja-Stimmen gegenüber drei Nein-Stimmen und drei Enthaltungen. Keine Position der Stärke, die es ihr erlauben würde, den offenen Konflikt mit Engel zu suchen. Und so war sie eher darum bemüht, die Spannungen zwischen Fraktion und Parteipräsidenten wegzumoderieren. Es „menschelt“ halt in einer Volkspartei, so ihre besänftigenden Worte.
Pakt. Hansen bezeichnet ihr Verhältnis zu Engel als gut. Engel umgekehrt ebenso. Aber beide sagen auch: „Wir sind vollkommen unterschiedliche Charaktere.“ Beste Freunde sind sie nicht. Doch sie sind eine Partnerschaft eingegangen – ein Zweckbündnis, um die jeweilige Position des anderen zu stabilisieren und vor allem die der CSV. Ihr Pakt beruht im Kern auf einem bedingungslosen Eingeständnis: Die CSV ist eine Oppositionspartei. Keine Regierungspartei „on hold“. Nicht staatstragender als die Dreierkoalition. Kein Wahlverein für Opportunisten.
Die Akzeptanz der Oppositionsrolle steht am Anfang der Zusammenarbeit von Hansen und Engel. Sie ist ein Bruch mit dem früheren Selbstverständnis der CSV und legt das Fundament für die neue Politik und den Stil der Volkspartei. Denn als führende Oppositionskraft habe die CSV auch als solche zu handeln, sagt Engel. „Wir müssen entlarven, was am Diskurs der Regierung nicht stimmt. Und wir müssen ein eigenes Projekt entwickeln.“
Während es mit dem Entwurf eines Gegenmodells noch hapert, scheint zumindest die Kritik der Regierungsarbeit zu funktionieren. Spätestens seit der EU-Wahlniederlage beschäftigt sich die CSV nicht mehr mit sich selbst, sondern richtet den kritischen Blick auf die Regierung. Er habe die CSV-Abgeordneten daran erinnert, so Engel, was die ehemalige Opposition der CSV als Regierungspartei stets vorgeworfen hat: die Arroganz der Macht. Mittlerweile könne man das gleiche von der Dreierkoalition behaupten. Nach dem Motto: Die sind ja wie wir damals.
Selbstbewusstsein. Die Bejahung der Opposition befreit die Partei auch von Sünden der Vergangenheit. Denn während die ökoliberale Koalition in ihrer ersten Amtsperiode jede Kritik reflexartig konterte, indem sie die jahrzehntelange CSV-Politik als Quelle allen Übels brandmarkte, läuft diese rhetorische Taktik mittlerweile ins Leere. Das liegt daran, dass dieses Pingpong-Spiel sich nach sechs Jahren abgenutzt hat. Aber vor allem, weil die CSV nun zu ihren Fehlern steht: „Selbst, wenn einiges falsch war, was die CSV damals gemacht hat, ist das kein Grund, es heute weiterhin falsch zu machen“, so Engel.
Diese Haltung wird exemplarisch an der Affäre um die staatlichen Datenbanken deutlich. Die Minister Félix Braz und François Bausch bezeichneten die scheinlegale Existenz der personenbezogenen Register bei Justiz und Polizei noch als Erbe des CSV-Staats. Doch dieser Vorwurf prallte an den CSV-Abgeordneten ab und bekräftigte sie nach eigenen Angaben nur in ihrem Vorgehen: den Finger in die Wunde zu legen. Das schaukelte sich so weit hoch, bis schließlich die gesamte Opposition geschlossen den Plenarsaal verließ. Es ist bezeichnend, dass der frühere CSV-Fraktionspräsident Claude Wiseler sich als letztes CSV-Mitglied von seinem Platz erhob. Eine vergleichbar spontane Aktion wäre unter seinem Vorsitz nur schwer denkbar gewesen. Und während die Regierungsparteien sich über die Nonchalance der Opposition ärgerte, zog diese aus der Aktion neues Selbstbewusstsein. „Wenn wir nur nach den Regeln der Regierung spielen müssen, dann ist letztlich doch nur alles Theater“, sagt Martine Hansen.
Ein zweites Beispiel, das den Status der CSV als Oppositionspartei untermauert, ist der Bruch in der Verfassungsfrage. Nach mehr als 15 Jahren hat sich die CSV kurzerhand vom Verfassungskonsens verabschiedet. Sie will sich den Prozess zu eigen machen und nicht nur Mehrheitslieferant für das Dreierbündnis sein. Will heißen: Die 21 CSV-Stimmen, ohne die eine Reform des Grundgesetzes aktuell nicht möglich ist, sind an neue Bedingungen geknüpft. Die Debatte soll geöffnet werden. Und zwar „tabulos“, so Engel. Was den Staat im Innersten zusammenhält – von Monarchie über Eigentums- und Gerechtigkeitsfragen hin zu Klimaneutralität –, alles soll neu und offen verhandelt werden. Zurück auf Los, ein Schreckensszenario für die Politiker der Dreierkoalition. Als „Ultimatum“ hat der Hüter der neuen Verfassung, Alex Bodry, diese Vorgehensweise bezeichnet. „Politik“, nennt es Frank Engel. „Ich habe nur das Offensichtliche ausgesprochen“, sagt er. Denn anders als es die Mehrheitsparteien darstellen wollten, sei der Prozess keinesfalls beendet. Premierminister Xavier Bettel habe doch den Stein ins Rollen gebracht, indem er per Brief die Positionen der Parteien zum Wahlsystem befragte. „Eine klare Verfassungsfrage.“
Aufbruch. Die Stimmung innerhalb der Partei ist deshalb trotz der Wahlenttäuschungen gut. Das sagen auch die beiden neuen stellvertretenden Generalsekretäre Kim Musel und Paul Galles. Beide sind vor kurzem an die Seite von Generalsekretär Félix Eyschen gestellt worden und sollen helfen, die CSV als Partei wieder attraktiv zu machen. Sie gehören zu einer Riege neuer CSV-Politiker, die das Profil der Partei der Mitte schärfen sollen. Kim Musel, die alle nur Kimi nennen, ist 27 Jahre alt, hat Management studiert und arbeitet beim Wirtschaftsprüferunternehmen Deloitte. Die Tochter einer LCGB-Aktivistin ist seit Jahren Mitglied der CSJ, steht der CSV-Denkplattform Dräikinneksgrupp nahe und nennt Klimafragen, Digitalisierung und Bildung ihre zentralen Anliegen. Paul Galles ist ehemaliger Pfarrer und seit Oktober CSV-Abgeordneter. Er ist ein Glücksgriff für die Partei: Galles ist charismatisch und stark verankert in der Zivilgesellschaft. Doch vor allem versöhnt er die angestaubten Ideen der C-Gruppe mit den aktuellen urbanen Bedürfnissen nach Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Inklusion. Beide sollen dabei helfen, die CSV wieder für die Wählerschaft des urbanen Speckgürtels der Hauptstadt interessant zu machen, die der CSV abhandengekommen ist.
Zeit. Den beiden CSV-Spitzen Hansen und Engel spielt dabei in die Karten, dass sie über eine Ressource verfügen, die ihre Vorgänger nicht hatten: Zeit. Die nächsten Wahlen sind voraussichtlich erst im Superwahljahr 2023. In vier Jahren fallen Kommunal- (Frühling) und Nationalwahlen (Herbst) zusammen. Die Last des Erfolgsdrucks besteht erst einmal nicht. Oder wie Paul Galles es sagt: „Es entlastet, nicht mehr zeigen zu müssen, dass wir Bayern München sind.“ Wenn es nach Frank Engel geht, soll erst so spät wie möglich („am besten erst Anfang 2023“) geklärt werden, wer als Spitzenkandidat die Partei in die Wahlen führt. Alles andere sei kontraproduktiv. Für den Parteipräsidenten wird jedoch schon ein früheres Datum von Relevanz sein: 2021 wählt die CSV ihren Parteipräsidenten. „Kann sein, dass dann alles vorbei ist.“ Aber bis dahin will er die CSV mit Martine Hansen als schlagfertige Oppositionspartei geformt haben.