Die CSV steckt weiter in Schwierigkeiten. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob sie unter Personalproblemen litte: Die Wahl eines neuen Parteipräsidenten vor vier Wochen bescherte ihr nicht den starken Mann, den manche erhofft hatten, weniger einen charismatischen Führer, als wieder einen bedächtigen Landesvater, der im Innern die Mitglieder mit Güte und Strenge führen und nach außen die Partei als eherne Institution neben Thron und Altar personifizieren soll. Kurz, der die Rolle des CSV-Patriarchen im Purpurgewand des Staatsministers als Landesvaters spielen sollte, wie Joseph Bech, Pierre Dupong, Pierre Werner, Jacques Santer, Jean-Claude Juncker... Bloß dass die CSV keinen Staatsminister und damit kein Gewand mehr hat, der Kaiser nackt ist.
So lief die Vorstandswahl Ende Januar schief. Denn so lange die CSV regierte, das heißt das christlich-soziale 20. Jahrhundert von 1918 bis 2013 hindurch, funktionierte sie dynastisch: Der amtierende rechte, danach christlich-soziale Staatsminister hatte ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn es hieß, im engsten Kreis den Parteipräsidenten und den Fraktionspräsidenten auszuwählen, die die Öffentlichkeit und die Parlamentsmehrheit von der Weisheit und Unausweichlichkeit seiner Entscheidungen zu überzeugen hatten. Bei Wahlen war der Patriarch an der Spitze der Regierung diskussionslos der natürliche Spitzenkandidat für seine eigene Nachfolge. Auf der Höhe seiner Laufbahn nahm er einen vielversprechenden Nachwuchspolitiker in seine Regierung auf, der quer zu allen Klassen, Bauern und Arbeitern, Beamten und Unternehmern, eine konservative Volkspartei zu verkörpern versprach, treu zum Großherzog, zum Bischof und zur Arbed, später zu den Banken, zur EU und zur Nato. Es war immer ein Mann, fast immer ein Rechtsanwalt, der schon Wahlkämpfe geführt hatte und eine oder zwei Legislaturperioden lang die Kulissen des Parlamentarismus in der Kammer oder im Parteiapparat kennengelernt hatte. Der Staatsminister machte ihn eine oder zwei Legislaturperioden lang zum Minister, neuerdings zuerst zum Staatssekretär, am besten zum strategisch entscheidenden Finanzminister, um ihn das Regierungshandwerk zu lehren. Danach vertraute er ihm die Führung der Regierungsgeschäfte und des CSV-Staats an, mit seinen Ministern, seinen christlich-sozialen Verwaltungschefs, seinen konservativen Massenorganisationen, seinen klerikalen Sturmtruppen und seiner staats- und parteierhaltenden Presse.
Im Laufe eines Jahrhunderts kam selbstverständlich manchmal etwas dazwischen, ein frühzeitiger Tod, eine Wahlniederlage, ein Weltkrieg, ein EU-Amt. Aber irgendwie wusste die CSV-Spitze sich immer zu reproduzieren, so lange sie an der Spitze der Regierung stand. Selbst als sie 1974 das Amt des Premierministers kurz verloren hatte, blieb Pierre Werner nach der Rückkehr der CSV eine Legislaturperiode lang Premier, um seine Nachfolge zu sichern.
Doch 2013 ging alles schief: Als CSV-Premier Jean-Claude Juncker stürzte und sich nach den Wahlen in Richtung Brüssel aufmachte, hatte er – aus Zeitmangel, aus Überdruss, aus Rache – keine Nachfolge vorbereitet. Manche Anwärter waren des langen Wartens müde geworden, sein einstiger Thronfolger, der ewige Prince Charles, Luc Frieden, hatte sich mit allerlei Affären diskreditiert. Seither sind fünf Jahre vergangen und die CSV ist nicht weitergekommen. Sie hat noch immer keinen Staatsminister, der einen neuen Landesvater bestimmen könnte. Mangels eines starken Mannes hatte der verwaiste Nationalvorstand den stillen Claude Wiseler einen Wahlkampf lang zum glücklosen Spitzenkandidaten gemacht. Anders als dynastisch zu funktionieren, lag außerhalb der Vorstellungskraft der Partei. Nicht einmal ein Parteipräsident fand sich in den Reihen ihrer respektablen, wenn auch schon arg verbrauchten Parteiprominenz. Naturgemäß beflügelt ein solches Machtvakuum Außenseiter, und plötzlich hatten die darin ungeübten Parteidelegierten nicht zu ratifizieren, sondern zu entscheiden: Eine knappe Mehrheit wählte Frank Engel. Sein Konkurrent, Serge Wilmes, erkannte die Wahl nur formal an und setzt seinen Wahlkampf öffentlich fort. Vielleicht wartet er als Gegenpapst darauf, dass Engel sich als Steve Bannon der CSV verrennt und wie Fernand Kartheiser als Präsident der ADR endet.
Das dynastische System der CSV ist seit Jean-Claude Juncker kaputt. Aber sie hat kein anderes, als mittels eines dynastisch bestimmten Landesvaters zu herrschen. Trotzdem ist das Problem der CSV nicht personell oder höchstens oberflächlich. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci beschrieb, wie Parteien „die Oberhand gewinnen, sich durchsetzen und sich in dem gesamten gesellschaftlichen Bereich verbreiten, wobei sie nicht nur die Einheit der wirtschaftlichen und politischen Ziele, sondern auch die intellektuelle und moralische Einheit bestimmen und alle Fragen, um die gerungen wird, nicht auf die korporative Ebene, sondern auf eine ‚universelle‘ Ebene stellen und damit die Hegemonie einer wesentlichen sozialen Gruppe über eine Reihe untergeordneter Gruppen einrichten“ (Gefängnishefte, 13, §17).
Fast ein Jahrhundert lang war es der CSV gelungen, hegemonial zu sein, ihre Politik so durchzusetzen, dass ein großer Teil der Öffentlichkeit glaubte, genau diese Politik zu wollen, ein anderer Teil sie als unvermeidlich im allgemeinen Interesse wenigstens akzeptierte, die meisten aber, einschließlich der meisten anderen Parteien, nicht imstande waren, sich eine grundlegend andere Politik vorzustellen, und sie deshalb als so selbstverständlich empfanden, dass sie sie gar nicht als Politik wahrnahmen. Das war Hegemonie in selten erreichter Vollendung. Eine Politik, die im Zeichen der Mäßigung und der Warnung vor Experimenten die Hierarchie von Arbeit und Müßiggang, von Armut und Reichtum zementierte, die gesellschaftlichen Zwang unter dem Deckmantel von Sicherheit, Sparsamkeit und Familienwerten ausübte, die Arbeitern, Bauern, Beamten, Geschäftsleuten und Rentnern sozialstaatliche und ständische Zugeständnisse im Innern machte, damit die Exportwirtschaft und die Steueroase umso ungehinderter nach außen blühen konnten.
„Die ‚normale‘ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Gebiet des parlamentarischen Regimes“, ist laut Antonio Gramsci dadurch charakterisiert, „dass der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint, so wie ihn die angeblichen Organe der öffentlichen Meinung – Zeitungen und Vereine – ausdrücken“ (13, §37). Im Parlament, im Staatsrat, an der Spitze der Verwaltungen, mit Unterstützung des Luxemburger Wort, der Kirche, des LCGB, der Caritas, der Pfadfinder, dichtender Studienräte und konservativer Historiker konnte die CSV ihre Hegemonie auch ideologisch ausüben, nicht als platte Parteipropaganda, sondern als angebliche Selbstverständlichkeit, als Abbild des gesunden Menschenverstands. Die paternalistische Führung durch einen christlich-sozialen Landesvater wurde weit über die CSV-Wählerschaft hinaus ein Jahrhundert lang als die naturgegebene, unvermeidliche Herrschaftsform in diesem Land angesehen wie das gottgewollte Sakrament der Herrschaft zu Zeiten des Absolutismus.
Laut Antonio Gramsci, „repräsentieren doch bestimmte Parteien unter bestimmten gegebenen Bedingungen eine einzige soziale Gruppe genau in dem Maße, wie sie eine balancierende und schiedsrichterliche Funktion zwischen den Interessen ihrer Gruppe und denen anderer Gruppen ausübt und die Entwicklung der von ihr repräsentierten Gruppe durch den Konsens und die Unterstützung verbündeter – wenn nicht sogar durch die Zustimmung von definitiv feindlichen Gruppen – abzusichern vermag“ (13, §21). Im Parlament hatte die Rechtspartei nur bis 1925 die absolute Mehrheit. Deshalb war ihre fast hundertjährige Hegemonie nur möglich, weil LSAP und DP ihre Politik bis auf Kleinkram teilten und ihr immer als Koalitionspartner abwechselnd zu einer parlamentarischen Mehrheit verhalfen.
Doch nun schwindet die Hegemonie der CSV. Die Gesellschaft als Dienstleistungsgesellschaft des Finanzkapitals wurde weltoffener, liberaler, individualistischer, toleranter, gebildeter, rücksichtsloser, die Kirchen leerten sich, RTL hat selbst in den Dörfern das Meinungsmonopol des Luxemburger Wort zerstört. Pünktlich mit dem Aufkommen des Neoliberalismus vor 30 Jahren begann der Stimmenanteil der sich verzweifelt modernisierenden und anpassenden CSV zurückzugehen, nur kurz unterbrochen vom Triumph ihres politischen Wunderkinds Jean-Claude Juncker 2004 und vom Sicherheitsbedürfnis nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009. Mit dem Sturz ihres letzten Landesvaters 2013 war das Schwinden der christlich-sozialen Hegemonie nicht mehr zu vertuschen. Doch größte Parlamentsfraktion hin oder her, je länger die CSV in der Opposition ist, je umstrittener ihre Führung ist, um so mehr erscheint die Staatspartei ohne Staat nicht mehr als Hüterin des großen nationalen Ganzen, sondern ihrer kleinen parteipolitischen Händel. 2018, als sie unerwartet den niedrigsten Stimmenanteil ihrer Geschichte erzielte, hatten die Wähler plötzlich entdeckt, dass die Hegemonie der CSV ein Anachronismus geworden ist, weil eine liberalere Gesellschaft sich genauso gut in liberaleren Parteien wiedererkennen kann.