Binge Watching

Beschleunigung

d'Lëtzebuerger Land vom 07.07.2023

Dass Kino und Fernsehen nicht zwangsläufig gegensätzlich für die Produktion von hoch- und minderwertigen Inhalten stehen, ist mit dem Aufkommen der sogenannten High-Quality-Serien, angeführt vom amerikanischen Pay-TV-Sender HBO, hinlänglich bekannt. Michael Mann ist ein Regisseur, der die Vorzüge beider Medien und ihrer jeweiligen Erzählweisen seit den Achtzigerjahren auslotet und regelmäßig zwischen Kino- und Fernsehproduktionen hin- und herwechselt. Acht Jahre nach seinem letzten Kinofilm Blackhat (2014) kehrt er zunächst mit Tokyo Vice auf den kleinen Bildschirm zurück, bevor Ferrari Ende des Jahres Manns Rückkehr auf die Kinoleinwand markieren soll.

Tokyo Vice basiert auf dem gleichnamigen Roman des amerikanischen Reporters Jake Adelstein von 2009 – einem Beststeller, der nun unter der Produktionsleitung von Michael Mann und J.T. Rogers als Serie adaptiert wurde. Darin begleiten wir den jungen Reporter Adelstein (Ansel Elgort), der Ende der Neunzigerjahre nach Japan reist, um für eine renommierte Zeitung zu arbeiten, ein eigentlich waghalsiges Unterfangen. Bevor er den Job bekommt, muss er sich erst einmal bewähren, Sprach- und Kulturkenntnisse unter Beweis stellen. Zunächst wird er der Abteilung der „Police Beat“ zugeteilt; er soll über kleinere Verbrechen berichten, doch seine Eigeninitiative trifft bei den japanischen Kollegen eher auf Unmut. Adelsteins engagierte Recherchen auf eigene Faust lassen ihn alsbald Verbindungen in einer mysteriösen Mordserie erkennen, die bis in die Yakuza, die größte Mafia-Organisation Japans, reichen. Unterstützung erhält er dabei von dem mürrischen Polizeiermittler Hiroto Katagiri (Ken Watanabe). Zu Beginn strukturiert sich deren Beziehung dramaturgisch an dem klassischen Motiv des Informationsaustauschs in einem Thriller. Im Kontext der journalistischen Aufdeckungsarbeit erhält das freilich einen noch größeren Bedeutungsraum: Wer weiß wann was von wem? Bald jedoch erwächst zwischen Katagiri und Adelstein eine Vater-Sohn-Beziehung, die im Verhältnis zwischen dem Mafia-Oberhaupt Kume und seinem Handlager Sato (Shô Kasamatsu) als Kehrseite gespiegelt ist.

Seinen dramaturgischen Kern trifft Tokyo Vice mit der Einführung der zwielichtigen Gastgeberin eines angesagten Nachtclubs, Samantha (Rachel Keller), deren angriffslustige Haltung mehr eine Schutzhülle für den inneren Schmerz ist. Adelstein und Sato verlieben sich in sie. Ein Dreiecksgeflecht bildet sich aus, das in einem Prozess der jeweiligen Spiegelung des einen im anderen die Verlorenheit aller drei Figuren offenkundig macht. Verdrängung, Verletzlichkeit, Angst treiben diese Gestrandeten um. Sie treffen aufeinander in diesem unmittelbaren Hier und Jetzt. Und freilich wäre diese bemerkenswerte Serie nicht von Michael Mann mitverantwortet, würde sie nicht den Blick freigeben auf das große Ganze: In seinen stärksten Momenten schimmert in Tokyo Vice etwas durch, eine Ahnung von den Folgen des in den Neunzigerjahren rasant einsetzenden Spätkapitalismus – wo Informationen und letztlich auch Menschen in einer Sphäre des konstanten Zeitdrucks wie Waren zirkulieren, beliebig gesetzt, beliebig austauschbar. Besonderes Augenmerk legt Tokyo Vice mithin auf das Erleben „vorangetriebener Zeit“. Dies geschieht durch eine überaus betonte Formsprache; eine hohe Schnittdichte, ein pulsierender Klangteppich aus Synthesizer-Beats bestätigen eine beständige Form des Sterbens der Zeit, nicht durch deren Stilllegung – wie Gilles Deleuze sie formulierte –, sondern durch deren Beschleunigung. Auf einer Optimistischer gesehen, überwiegt da der Umstand, dass Tokyo Vice wieder an die engagiert-investigative, ja befreiende Kraft der Presse glaubt, war Michael Manns Insider (1999) doch ein sehr desillusionierter Blick auf die aufklärerische Recherche. Am Ende bleibt indes dort wie hier die ernüchternde Erkenntnis für eine allumfassende existenzielle Anspannung und für den Preis eines nicht gelebtes Lebens.

Marc Trappendreher
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