Deutschlands Populisten der Mitte

Gefühlsecht

d'Lëtzebuerger Land vom 24.08.2018

Wenn Politiker in die Kritik geraten, weil sie skandalösen, unhaltbaren, unsagbaren Unsinn von sich gegeben haben, geschieht meist ein seltsames Spiel. Oder ein einstudiertes Ritual mit vorformulierten Floskeln, Satzbausteinen und gestelzt gesetzten Worten beginnen sie sich aus der Krise zu manövrieren. Es werden viele Worte gemacht, aber wenig gesagt. Gängige Beispiele: „Ich bedauere sehr, dass durch meine Äußerungen der Eindruck entstehen konnte, dass … .“ Der Politiker, oder die Politikerin, geben zu Protokoll, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe, um eine Missinterpretation des eigentlich gesagten und doch nicht so gemeinten. In den Medien werden die passenden Schlagzeilen transportiert: „Minister XY bedauert“ oder „Ministerin XY rudert zurück“. Doch im tiefsten Kern der Angelegenheit haben die Ministerin oder der Minister überhaupt nichts zurückgenommen, sie haben nur umgedeutet oder neu interpretiert.

Dies machte auch in den vergangenen Tagen Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Er hatte einen Gerichtsbeschluss kritisiert, nachdem die Abschiebung des Gefährders Sami A. nach Tunesien rechtswidrig gewesen sei und er deshalb nach Deutschland zurückgeholt werden müsse, und die Justiz aufgefordert, wieder mehr auf das „Rechtsempfinden“ der Bürger zu achten. Für diese Einschätzung gab es reichlich Kritik. Auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Reul wagte es dann, dem Ritual nicht zu entsprechen. Er beschränkte sich nicht auf den üblichen Bußgang, sondern suchte sich eine neue Rolle. Denn: In Bayern und Hessen sind im Oktober Landtagswahlen. Der Gegner steht rechts von den Christdemokraten. Es gilt, der AfD das Wasser und die Themen abzugreifen. Dabei kann auf ein hehres Institut wie die unabhängige Justiz keine Rücksicht genommen werden. Der Innenminister wandelte sich zum Mahner und Warner: „Ich habe die große Sorge“, erklärte Reul in seinem Statement, „dass die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungen staatlicher Institutionen immer weniger verstehen. Alle staatlichen Gewalten sollten daher mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, ihr Handeln zu erklären.“

Die Verwaltungsgerichte, die bis zu diesem Zeitpunkt mit der Causa Sami A. befasst waren, haben jedoch umfassend, ausführlich und zudem leicht verständlich erklärt, wie sie von den zuständigen Behörden in Nordrhein-Westfalen hintergangen wurden, wie von diesen Gerichtsurteile missachtet wurden und wie sie sich darüber hinwegsetzten. Für jeden, der es bis dahin nicht verstanden hatte, warum Sami A. wieder nach Deutschland zurückkehren muss, gab die Präsidentin des Oberverwaltungsgericht für Nordrhein-Westfalen in Münster, Ricarda Brandts, ein umfassendes Interview, das als beispielhaftes Erklärstück für diesen Fall gilt. Somit liegt nahe, dass Reul mit seiner Aufforderung an die staatlichen Gewalten im Grunde genommen nur sich selbst gemeint haben kann. Doch warum hat er nicht einfach die bekannten und einstudierten Rituale abgespult?

Erklärungsversuch: Herbert Reul wollte mit seinem Wortbeitrag und aufgesetztem Bedauern Kritik an der Justiz platzieren. Ein solches Vorgehen nennt man gemeinhin: Nachtreten. Seinem Appell an ein „Empfinden“ knüpft sich bedingungslos an eine behauptete „Sorge“. In der heutigen politischen Kommunikation ist damit offensichtlich: Fakten spielen keine Rolle und werden egal. Die Sorge knüpft sich an Ängste. Diese sind derzeit en vogue. Es geht dabei um Emotionen, die ein Begründen und Belegen obsolet machen. Jeder Mensch darf Ängste und Gefühle artikulieren. Jeder hat das Recht dazu. Recht wird zu einer gefühlten Sache, einer gefühlsechten Norm. In der Ratio non plus ultra bedeutet dies, dass derjenige, der Recht fühlen kann, hat mit allem, das er fühlt und spürt, auch immer gleich recht. Oder Recht. Er redet dem subjektiv wahrgenommenen Volk nach dem Mund. Wer dann nicht das Gefühlsrecht des Einzelnen teilt, gehört für diesen in der Schlussfolgerung nicht zum Volk. Das Gefühlsrecht wird zum exkludierenden, zeitgeistigen Merkmal.

Das System der Gewaltentrennung und der Gewaltenteilung ist ein herausragendes Merkmal der Demokratie. Die Unabhängigkeit der drei Staatsgewalten Exekutive, Legislative und Judikative ist nicht verhandelbar. Dass sich die Judikative eine abstrakte Norm bedienen muss, die unabhängig – etwa vom Ansehen oder der politischen Gesinnung eines Menschen – Recht spricht, ist zwingende Voraussetzung. Doch dieses Konstrukt der Demokratie birgt auch eine große Gefahr, die immer dann offensichtlich wird, wenn sich ein Vertreter einer demokratischen Gewalt auf die Kosten einer anderen aufwertet, um beim Wähler punkten und seine Macht zementieren zu können. Genau das hat Herbert Reul getan, in dem er von einem – den Moden der Zeit und der politischen Großwetterlage unterworfenem – Gefühlsrecht spricht und nicht die ihm untergeordneten Behörden anweist, den Urteilen der unabhängigen Justiz Folge zu leisten. Die Beharrlichkeit, mit der Reul seine Kritik an der Rechtsprechung wiederholt, offenbart, dass er ein mangelhaftes Verständnis von demokratischer Gewaltenteilung hat. Herbert Reul hat dieser Tage das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse erhalten.

Martin Theobald
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