Nun wird juristisch aufgearbeitet: Die offizielle Wahlkampagne für den Brexit hat gegen Finanzierungsregeln des britischen Wahlrechts verstoßen. Die Wahlkommission des Vereinigten Königreichs fordert deshalb nun von „Vote Leave“ eine Strafzahlung in Höhe von 61 000 Pfund, umgerechnet rund 69 000 Euro. Höhere Strafen kann sie nicht verhängen. Die Ausgaben für die Brexit-Kampagne sollen bei 7,5 Millionen Pfund gelegen – und damit eine halbe Million Pfund über dem zulässigen Betrag.
Darüber hinaus ermittelt die Polizei in Großbritannien, ob die Verantwortlichen der Kampagne auch strafrechtlich belangt werden können. Grund für die Ermittlungen: Der Ausgabenbericht zur Kampagne soll unvollständig und fehlerhaft gewesen sein. Die wichtigste Frage dabei ist, wohin die illegalen Ausgaben geflossen sind. Die Wahlkommission in London kam zu dem Schluss, dass „Vote Leave“ auch hinter einer zweiten, als selbstständig deklarierten Kampagne namens „BeLeave“ stand, die ihr Budget fast vollständig für die Dienste der kanadischen Datenanalyse-Firma Aggregate IQ aufgewendet hat. Aggregate IQ arbeitete, so der Whistleblower Christopher Wylie, eng mit Cambridge Analytica zusammen. Dieses Unternehmen, das inzwischen geschlossen ist, wurde vor allen Dingen dadurch bekannt, massenhaft unrechtmäßig erlangte Daten des sozialen Netzwerks Facebook verwendet zu haben, um US-amerikanische Wähler vor der Präsidentschaftswahl 2016 gezielt mit teils unerlaubter Wahlwerbung ins Visier genommen zu haben.
Die Wahlkommission habe die Ausgaben der beiden Kampagnen „Vote Leave“ und „BeLeave“ eingehend geprüft, erklärte Bob Posner, Kommissionsdirektor für politische Fragen und Regularien, in der BBC. Beide Kampagnen hätten „an einem gemeinsamen Plan gearbeitet“, ohne ihre Zusammenarbeit offiziell zu deklarieren. Dies sei eine „ernte Verletzung“ der vom britischen Parlament verabschiedeten Gesetze für faire und transparente Wahlen und Referenden, so Posner weiter. Boris Johnson, ehemaliger britischer Außenminister und das „Gesicht“ der Brexit-Fürsprecher auch von Vote Leave, steht nicht im Fokus der Untersuchungen.
Seit der Abstimmung über dem Brexit vor nun mehr zwei Jahren sei das Land in einem Zustand, den britische Kommentatoren in der Presse mit dem Experiment um Schrödingers Katze beschreiben. Der österreichische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Erwin Schrödinger schlug ein Experiment 1935 vor und problematisierte so „die direkte Übertragung quantenmechanischer Begriffe auf die makroskopische Welt in Form eines Paradoxons“, wie es im Internetlexikon Wikipedia beschrieben wird.
„Das Paradoxon besteht darin, dass dem Gedankenexperiment nach eine Katze mit den Regeln der Quantenmechanik in einen Zustand gebracht werden könnte, in dem sie gleichzeitig ‚lebendig’ und ‚tot’ ist, und in diesem Zustand verbleibt, bis die Experimentieranordnung untersucht wird.“ Kurz beschrieben: Man packt eine Katze in einen Karton und fügt radioaktives Material hinzu, das die Katze töten kann oder nicht. Das weiß man jedoch erst, wenn man den Karton wieder öffnet. Bis dahin ist die Katze gleichzeitig tot und lebendig. Die britische Premierministerin Theresa May versucht das Gleiche, für das Vereinigte Zustand bei den Austrittsverhandlungen mit der EU. Sie möchte einen Zustand erreichen, in dem das Land gleichzeitig in der Union ist – und draußen. Dieser Zustand gilt so lange, bis die Versuchsanordnung untersucht und damit die Box geöffnet wird. Oder der Brexit Wirklichkeit wird.
Bislang wurde von Großbritannien wie von den verbleibenden übrigen 27 Mitgliedsstaaten der EU vermieden, den Karton überhaupt nur anzufassen. Es gilt weiterhin das Paradoxon von Schrödingers Katze oder wie es Michel Barnier, Verhandlungsführer der Union, formulierte: „Es ist nichts vereinbart, bist alles vereinbart ist.“ Der Brexit lässt nur zwei finale Stadien zu: drin oder draußen. Entweder das Land scheidet aus der Union aus und greift auf die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zurück oder es verbleibt in der EU. Keine Position zwischen diesen beiden Zuständen macht ökonomisch oder politisch Sinn – für London wie auch für Brüssel. Verbleibt Großbritannien etwa in einer Zollunion mit der EU wird es für London äußerst schwierig Handelsabkommen mit Nicht-EU-Ländern abzuschließen. Zudem wird das Land dazu verpflichtet Regeln und Vorschriften der EU einzuhalten, die es nicht mehr beeinflussen kann. Verbleibt das Land in einer Zollunion – so wie es Theresa May in ihrem Brexit-Weißbuch plant, das sie der Europäischen Kommission zukommen ließ, so hat es sich für Brüssel die Kirschen aus dem Kuchen gepickt, die ihm genehm scheinen. Brüssel muss dann damit leben, dass es viele seiner politischen Grundfreiheit aufgibt, um eine ökonomische Freiheit zu gewährleisten. Eine Blaupause für weitere EU-müde Länder.
Nicht wenige Briten sehen im Brexit eine wirtschaftliche Renaissance. Die Begründung ist, dass nach einem schmerzhaften Prozess der Neuausrichtung der nationalen Wirtschaft auf die globale Ökonomie das Land zu den Modernisierungsgewinnern gehören werde. Experten warnen jedoch davor, dass London kaum auf den wirtschaftlichen Schock durch den Brexit vorbereitet ist, geschweige denn Vorbereitungen dafür trifft. Selbst in Brüssel ist man besorgt über die Inkompetenz und Sorglosigkeit der Briten etwa beim Aushandeln künftiger Handelsabkommen. So erklärte ein ehemaliger leitender britischer Regierungsbeamter, der nicht namentlich genannt wird, gegenüber dem Internetblog Business Inside, über die anstehenden und laufenden Verhandlungen: „Ehrlich gesagt, haben sie“, das Department for International Trade, „monatelang herumgespielt und nichts getan.“ Die meisten Menschen, die mit dem Brexit zu haben und hätten, ignorierten die Realität völlig.
London scheint sich mit dem Dilemma oder dem Paradoxon von Schrödingers Katze anzufreunden und möchte schlichtweg nicht, dass der Brexit auf die ein oder andere Weise gelöst wird. Man beginnt sich im Status des ungeklärten Status einzurichten. Das befriedet die Fronten. Denn die Tories werden derzeit zerrieben und zerrissen, wie auch Labour, zwischen Fürsprechern und Gegnern des Ausstiegs. Diese Woche erst ist Premierministerin May einmal mehr im Ringen um die britische Handelspolitik nach dem Brexit einer Schlappe im Unterhaus knapp entgangen. Ein Antrag zur Zollunion wurde abgelehnt, ihr Handelsgesetz hingegen gebilligt.
Die irische Grenzfrage wird zum Stein des Anstoßes werden. Der nordirische Koalitionspartner von May, die DUP, wird niemals eine Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien akzeptieren, da dies als ein Vorbote zum vereinten Irland gesehen wird. Den größten Fehler, den das Kabinett May, seit dem Referendum 2016 begangen hat, ist anzunehmen, dass die EU irgendwann damit beginnen werde, nach der Pfeife Londons zu tanzen. Ein Irrglaube, denn in den meisten EU-Ländern herrscht die Meinung vor, dass Europa ohne Großbritannien weitaus besser funktioniert. Im Herbst wird EU-Chefhändler Michel Barnier London zu einer Entscheidung zwingen. Dabei wird er die Nordirland-Karte spielen. Anschließend wird das Vereinigte Königreich die Wahl haben, ob die politische oder die ökonomische Sphäre obsiegt. Oder anders ausgedrückt: Die Demokratie bleibt gewahrt, die Regierung im Amt und die Wirtschaft fährt gegen die Wand – einerseits. Oder andererseits: Das Ergebnis des Referendums wird widerrufen und die Demokratie beschädigt, während die Wirtschaft profitiert.