Bewegungen sind en vogue dieser Tage. Da es Emmanuel Macron mit seiner Sammlung „En Marche“ ins höchste Staatsamt Frankreichs schaffte, eifern ihm viele Politikerinnen und Politiker in Europa nach. Nun versuchen dies auch Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, und ihr Ehemann Oskar Lafontaine, einst saarländischer Ministerpräsident und Bundesfinanzminister. Sie gründeten die Sammlungsbewegung „#Aufstehen“ und möchten damit es schier Unmögliches schaffen: politische linke Kräfte zu einen.
Die Sammlungsbewegung verzeichnete knapp eine Woche nach ihrem Start 64 000 Unterstützer im Internet. Darunter auch Prominente wie die Kabarettistin Lisa Fitz, den Schauspieler Sebastian Schwarz und den Historiker Peter Brandt, Sohn des früheren Bundeskanzler Willy Brandt. „Die Gesamtlinke muss wieder Zugang zu ihrem eigentlichen Adressaten finden, dem ‚arbeitenden Volk in Stadt und Land’“, so Brandt mit Verweis auf das sogenannte Görlitzer Programm der Sozialdemokraten von 1921. Gefordert werde ein entschiedener Bruch mit dem neoliberalen Irrweg. Irgendeine rot-rot-grüne Bundesregierung sei unzureichend, führt Brandt aus. „Nicht nur die Gräben zwischen den relativ linken Parteien sind zu überwinden, auch die kulturelle Kluft zwischen den progressiven, urbanen, mobilen, gebildeten Segmenten und den Volksmassen muss überbrückt werden“, erklärte er in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft.
Doch die Bewegung hat vor allen Dingen ein Problem: ihr Führungspersonal. Da ist zunächst Oskar Lafontaine, der vielen als ein alter, verbitterter Mann erscheint, der es noch einmal allen – etablierten – Kräften und Parteien beweisen möchte. In seiner politischen Karriere war er für manche Überraschung gut. 1995 putschte er sich auf dem Mannheimer Parteitag der SPD gegen Rudolf Scharping an die Spitze der Partei. Vier Jahre später warf er dieses Amt, wie auch den Posten des Bundesfinanzministers, im Streit mit Gerhard Schröder Knall auf Fall hin. 2005 betrieb er gemeinsam mit Gregor Gysi die West-Ausdehnung der PDS, der Nachfolgepartei der DDR-Staatspartei, unter neuem Label. Danach wurde er im innerparteilichen Konflikt mit Gysi immer mehr zum Außenseiter in der eigenen Partei. Nun will ausgerechnet Oskar Lafontaine, dem viele den desolaten Zustand der SPD zurechnen, die Linke sammeln und einen. Seit Herbst letzten Jahres geht er mit der Idee Klinken putzen. Seine Ehefrau Sahra Wagenknecht hat er zur Gallionsfigur der Bewegung gemacht, die am 4. September unter dem Titel „#Aufstehen“ offiziell starten soll. Mit Hashtag. So viel Digitalisierung muss sein.
Eine linke Allianz tut Not in Deutschland. Vor allem vor dem Hintergrund des Rechtsrucks im Lande wie im übrigen Europa. Nach der Bundestagswahl 2013 gab es eine linke Mehrheit im Bundestag, die jedoch von der SPD ausgeschlagen wurde, um mit der CDU unter Kanzlerin Angela Merkel in eine Große Koalition einzutreten. Als vier Jahre später die rechnerische Mehrheit für eine linke Politik auf Bundesebene nicht mehr gegeben war, präsentierten sich die Sozialdemokraten aus Staatsräson wiederum als Juniorpartner in einer Regierung mit den Christdemokraten. Nun dümpelt die SPD als stärkste linke Partei im Tief der Meinungsumfragen und kämpft in manchen Bundesländern gar um das politische Überleben. Auch hier kommt das Menetekel aus Frankreich, wo die Parti Socialiste sogar den Solferino, ihre altehrwürdige Parteizentrale, verkaufen musste, um zahlungsfähig zu bleiben.
Es gibt auch genügend Themen für linke Politik: die Auswirkung von Digitalisierung und Automatisierung auf die Arbeitswelt etwa, nicht nur in verarbeitenden Berufen, sondern vor allen Dingen in der Dienstleistungsbranche, aber auch Konzepte zur Sicherung der Rente und des selbständigen, würdigen und gesunden Lebens im Alter. Doch wie in vielen anderen europäischen Staaten lassen sich auch in Deutschland Linke und SPD von den Rechtspopulisten am Nasenring durch die Manege ziehen. Bildlich gesprochen. Gerade beim Thema Flüchtlinge und Integrationspolitik wird die Personalie Wagenknecht zwielichtig, da sie allzu gerne rechte Positionen übernimmt, denn eigene, linke Standpunkte zu entwickeln und zu vertreten.
Demoskopen haben sich bereits der Sammlungsbewegung angenommen. Unter den Anhängern von Linke, SPD und Grüne können sich viele vorstellen, „Aufstehen“ zu wählen, sollte sie bei einer Bundestagswahl antreten. Das ist es auch, was den beiden Gründern der Sammlung vorschwebt. Wagenknecht selbst hatte zunächst von einer neuen „linken Volkspartei“ gesprochen. Lafontaine möchte „das erstarrte Parteiensystem überwinden“. Die Perspektive: Die Sammlungsbewegung gibt vor, Gräben zuzuschütten und chronische Spaltungstendenzen innerhalb der Linken überwinden zu wollen. Aber gerade durch die Personalien Lafontaine und Wagenknecht facht sie neue Konflikte an. Beide wollen die Bewegung dazu benutzen, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Das vor allen Dingen in der Asyl-Politik, gegen die Europäische Union, für nationalstaatliche Lösungen. AfD-Wähler werden vom neuen Bündnis direkt adressiert und zum Objekt der Begierde von Wagenknecht, wie sie in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ausführte.
Doch ob nun En Marche in Frankreich oder #Aufstehen in Deutschland: Beide Bewegungen machen deutlich, dass das Konzept der klassischen politischen Partei, vor allem aber der Volkspartei an seine Grenzen stößt. Es scheint eine wachsende Sehnsucht nach Gruppierungen und Bündnissen zu geben, die die Grenzen zwischen den Parteien überwinden und spontan, unverbindlich zu einzelnen Themen gebildet werden – meist aus Partikularinteressen. Vor Wagenknecht versuchte sich Frauke Petry, Ex-AfD-Chefin, an einem solchen Projekt. In ihrer „Blauen Wende“ sollten sich Bürger unabhängig von der Parteizugehörigkeit Gedanken über die Lösung von politischen und gesellschaftlichen Problemen machen. Sie können später auf der Liste der „Blauen Partei“ zu Wahlen antreten, auch wenn sie kein Mitglied sind. Das Manko von Parteien offenbart sich dieser Tage: Sie zwängen ihre Mitglieder in ein Korsett. So gibt es etwa im deutschen Bundestag den Fraktionszwang – gerade bei knappen Mehrheiten für die Regierung darf es dann keine Abweichler geben. Die politische Konkurrenz wird an der Suche nach Lösungen nicht beteiligt. Und immer wieder werden Parteien von internen Macht- und Flügelkämpfen gelähmt, die das Land nicht weiterbringen, aber der persönlichen Machtsicherung dienen. Während die Politik eine Modernisierung der Gesellschaft fordert und Politikverdrossenheit geißelt, tut eine Debatte über Parteien an. Mit „#Aufstehen“ soll nun eine „linke Ökumene“ geschaffen werden, wie es Peter Brandt vorschwebt. Die Erfolgsaussichten sind ob des Führungspersonals indes mau.