Am Anfang war ein Foto. Zwei Fußballspieler überreichen einem gewichtigen Politiker ein Trikot. Eine Szene, die sich am Rande von Fußballplätzen und in den Logen der Stadien mehrmals im Jahr abspielen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ein Nationalhemd zuhause, jedweder Papst bekommt gerne eins geschenkt und es eignet sich auch als Gastpräsent bei internationalen Turnieren. Kaum einer nimmt Notiz davon. Wenn es bei eben jenem Foto nicht zwei Mitglieder der deutschen Nationalmannschaft gewesen wären, die dem türkischen Staatsoberhaupt ein Jersey überreichen. Sie taten es im privaten Rahmen. Mit den Hemden ihrer Vereine. Machten Fotos vom Trikottausch und verteilten diese im und übers Internet. Die populistische Volksseele in Deutschland bekam angesichts der Fotos Schnappatmung: Darf ein deutscher Nationalspieler sich einem ausländischen Autokraten andienen?
Es sei eine private Sache gewesen, beschwichtigte später Mesut Özil seine Aktion. Und er würde es jederzeit wieder machen. Dies war die Fehleinschätzung, die der „deutsche Fußballspieler mit türkischen Wurzeln“, wie die Medien ihn fortan beschrieben, vornahm. Denn: Das Private ist immer politisch. Eine Grundmanifestation des Feminismus der 68-er-Bewegung, die
als Grunddeterminante für jedwedes Agieren von Menschen und insbesondere von Personen öffentlichen Interesses gilt. Es verhält sich mit diesem Satz so, wie mit einem Axiom der Sprachtheorie von Paul Watzlawick: Man kann nicht nicht kommunizieren. Genauso gilt: Man kann nicht nicht politisch sein. Auch wer sich völlig auf sein Privatleben zurückzieht, handelt politisch: Es ist dies die politische Aktion der inneren Emigration und eine eindeutige Botschaft. Dem Fußballspieler Mesut Özil steht – wie jedem anderen auch – das Recht auf freie Meinungsäußerung zu. Er darf den türkischen Staatspräsidenten gut finden. Das ist seine Meinung und die darf er äußern, so wie andere Fußballfans etwa Dieter Hoeneß toll finden, Manager des FC Bayern Münchens und vorbestraft wegen Steuerhinterziehung. Özil darf diese Meinung haben, doch er darf seine Meinung nicht wortlos der Deutungshoheit der Kommentatoren überlassen. Dies war eine weitere Fehleinschätzung.
Was in den Wochen des sogenannten Trikotgates geschah, war, dass die Fehleinschätzungen eines naiven Fußballspielers einerseits auf die mangelhafte Selbstwahrnehmung einer höchst neurotischen Gesellschaft andererseits traf. Deutsche denken gerne, sie hätten in den vergangenen Jahren einen Meisterakt an Integration vollbracht. Sichtbarstes Zeichen: die Mitglieder der Fußballnationalmannschaft. Sport galt schon immer als der Motor der Integration. Gemeinsam laufen, gemeinsam Federball spielen, gemeinsam boxen. In der Fußballnationalmannschaft reiche es aus, wenn Spieler mit Namen Boateng, Khedira oder Müller kicken, um ein Ideal und Idol der Integration zu sein, so Volkes Meinung. Selbstredend hatte die Nationalelf auch die Werte oder den Wertkonsens des Landes zu vertreten und für diese einzustehen. Liberal, weltoffen, effizient, ehrgeizig, ökologisch, innovativ, schulmeisternd, kraftstrotzend, integrativ, integrierend, inkludierend und alles weitere, das mit „in“ anfängt. Das zu diesem Wertekonsens auch die freie Meinungsäußerung gehört, wurde in der Causa Özil übersehen.
Eine weitere Fehleinschätzung der Gesellschaft war, dass sie stets davon ausgegangen ist, sie habe integriert. Eben jene Gastarbeiter, die blieben. Nun sagt aber deren dritte oder vierte Generation, dass dies mitnichten geschehen ist. Es gibt keine Integration in oder durch die Bevölkerung, die Gesellschaft, die Nation, die Menschen in Deutschland. Denn es fehlen das Motiv oder das Modell, das als Basis der Integration funktionieren kann. Ein solches Vehikel ist etwa in den Vereinigten Staaten der gemeinsame Traum davon, dass alles möglich ist und man sich vom Tellerwäscher sich zum Millionär hocharbeiten kann. Einen solchen Traum gibt es in Deutschland nicht. Und auch das Modell der Gesellschaft, die aus ihrer Geschichte gelernt hat, hat durch das Aufkommen des Rechtspopulismus das Fundament verloren. Darin liegt die eigentliche Crux der Causa Özil. Es ist die Entzauberung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die nun erkennen muss, dass sie in sozialer, ethischer und moralischer Hinsicht schlichtweg weitaus weniger hinbekommen hat, als sie all die Jahre dachte. Da es aber in der ökonomischen Sphäre läuft, bleibt die große Mehrheit stumm und still, steht nicht auf und kämpft nicht für die geglaubten Werte. Die innere Emigration ist ein wohlfeiles Modell in diesen Zeiten.
Man kann nicht nicht politisch sein. Sascha Lobo, Kolumnist bei Der Spiegel, hat dieses Theorem anders formuliert: „Wenn zu viele Menschen ihren Mund halten, obwohl sie laut sein sollten, können die Immerlauten sich und der Öffentlichkeit einreden, sie repräsentieren die Mehrheit. Und so traurig das ist, es handelt sich um eine selbst erfüllende Prophezeiung. Die schweigende Mehrheit ist in einer liberalen Demokratie keine Mehrheit. Eine stumme Mehrheit kann ohne großen Aufwand Extremisten an die Macht schweigen.“