Victor Hugos Präsenz gereicht jeder Stadt zu Ruhm und eignet sich bestens zur Bewerbung einer Region wie im Falle von Vianden, in die der berühmte Schriftsteller vernarrt gewesen sein soll; die Luxemburger beschrieb er als „heitere Bevölkerung“. Eingenommen von der Stadt Mons sollte er auch diese in überheblicher Manier beschreiben. In Mons gäbe es keinen gotischen Glockenturm, aber die Silhouette der Stadt sei mit drei Belfrieden beladen, in diesem „gequält-bizarren Geschmack“, der hier „aus dem Zusammenprall von Norden und Süden, von Flandern und Spanien“ resultiere. Über den höchsten dieser drei Türme schrieb er an seine Frau: „Figure-toi une énorme cafetière flanquée au-dessous du ventre de quatre théières moins grosses. Ce serait laid si ce n’était grand. La grandeur sauve.“
Die Stadtführerin des Tourismusbüros Visit Mons gerät noch immer in Rage, wenn sie die Worte des französischen Dichters hervorruft: „Teekannen!!“, schnaubt sie kopfschüttelnd; „Victor Hugo, go to Hell“, entfährt es ihr. Vorbei am Rathaus, an dessen Fassade man einen kleinen Glücksaffen aus Bronze, ein Wahrzeichen, streicheln kann geht es weiter zur Maison Losseau, einem herrschaftlichen Jugendstilhaus.
Seitdem Mons, das nur zweieinhalb Auto-Stunden oder mit dem Zug über Arlon einen Katzensprung von Luxemburg entfernt ist, 2015 Europäische Kulturhauptstadt war, befindet es sich kulturell im Aufwind. Zahlreiche Kunstwerke im öffentlichen Raum künden noch von dem europäischen Großevent: auch der futuristische Bahnhof, der gerade neueröffnete Museumskomplex „Culture, Art et Patrimoine“ (CAP) im Stadtzentrum und schließlich die Wechsel-Ausstellungen im Museum der Schönen Künste.
Das Museum präsentiert nach einer aufwändigen Renovierung aktuell eine hochkarätige Ausstellung über den französischen Bildhauer Auguste Rodin. Die weitläufige Schau zeigt fast 200 der berühmtesten Skulpturen des Künstlers, darunter einige Monumentalskulpturen wie Das Eherne Zeitalter und seinen Denker (Le Penseur, 1881-1882), aber auch Zeichnungen, Drucke und Gemälde, die aus dem Musée Rodin in Paris, internationalen Institutionen (etwa Musée d’Orsay, Musées royaux des beaux-arts, Victoria and Albert Museum, Louvre) und Privatsammlungen stammen. Roter Faden der Rodin-Schau ist sein Umgang mit dem Körper, sein Blick auf die Renaissance, der sich bei seinem Aufenthalt in Belgien herauskristallisieren sollte.
Belgien als Dreh- und Angelpunkt für Rodins Schaffen
Die Ausstellung zeigt, wie der in den Anfängen verkannte Rodin, der dreimal an der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris abgewiesen wurde und dessen Zeichnungen nicht nur die Kunstwelt von Anbeginn irritierten, zur Bildhauerei kam. Sie bemüht zugleich dezidiert seine enge Beziehung zu Belgien: „La Belgique – Pays que j’aime comme mon atelier de plein air“ (Rodin, 1906) liest man an einer Wand.
In seinen belgischen Jahren wurde Rodin mit den flämischen Künstlern vertraut, die er auf seinen Streifzügen durch Gent, Lüttich und Antwerpen entdeckte. Neben Van Dyck, Teniers, Snyders und Jordaens soll ihn vor allem Rubens fasziniert und geprägt haben. Von ihm sollte er mehrere Gemälde aus dem Gedächtnis kopieren. Die erste große Figur, die er in Belgien schuf, wurde im Januar 1877 in Brüssel vorgestellt: Das Eherne Zeitalter war geboren. Seine erste Einzelausstellung hatte Rodin 1899 in Brüssel.
Im zweiten Stockwerk stoßen die Besucher/innen auf Rodins Der Denker. Die Schau widmet sich aber vor allem auch seinen Zeichnungen und zeigt ihn als „Erfinder eines modernen Akts“.
In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens legte Rodin großen Wert auf Zeichnungen, die von seiner Erforschung der menschlichen Figur, aber auch des Raums und abstrakter Formen zeugen. Er galt schon damals als Vorläufer der zeitgenössischen Malerei, der u.a. Schiele, Matisse, Klee und Picasso beeinflusste. Sie alle besuchten Rodins zahlreiche Ausstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ab 1896 erfand Rodin eine experimentelle Praktik des „Blindzeichnens“, bei der sein Blick ausschließlich auf sein Modell gerichtet ist. So erzeugte er rudimentär anmutende, deformierte Akte und bildete einen Gegenpol zur klassischen Vorgehensweise.
„Während er leidenschaftlich nach dem Ausdruck sucht, hinterfragt er die rein figurative Sicht auf die Kunst, indem er eine neue Betrachtungsweise des „modernen Akts“ im Bereich der Bildhauerei und beim Zeichnen vorschlägt, die sich ab 1900 durchsetzt“, so die Kuratorinnen Antoinette Le Normand-Romain und Christina Buley-Uribe. Gespenstisch verschwommen und bisweilen magisch abgerückt wirken Rodins Aktzeichnungen in der Schau in Mons.
Ein Raum widmet sich schließlich seinen „schwarzen Zeichnungen“. In einer kargen Palette von Schwarz/Weiß und Grau ausgeführt, zählen sie zu den schönsten grafischen Werken des 19. Jahrhunderts. Es gäbe rund 600 Zeichnungen, die einen Bezug zum Höllentor hätten, so Buley-Uribe, aber nur ca. 50 davon stünden in einem spezifischen Bezug zu Dantes Divina Commedia.
Dem Trend folgend, wird Rodins Oeuvre den Werken einer zeitgenössischen belgischen Künstlerin, Berlinde de Bruyckere, entgegengesetzt. Trotz der über hundert Jahre, die zwischen den beiden liegen, ergänzen sie sich auf fast unheimliche Weise. De Bruyckeres geschundene Körper-Skulpturen bilden so ein Echo zu Rodins Werk. Wenngleich die Kuratorinnen Rodins despotische Haltung gegenüber Frauen an keiner Stelle erwähnen (nicht einmal seine Schülerin Camille Claudel, die Zeit ihres Lebens keine Anerkennung als Bildhauerin finden sollte), kann die Gegenüberstellung mit de Bruyckeres Werken so als klandestiner Kommentar gewertet werden.
In der Stiftskirche Saint-Waudru in Mons werden die Werke Rodins im Wechselspiel mit den Skulpturen von Jacques Du Brœucq gezeigt. Du Brœucq gilt als einer der bedeutendsten Künstler der Hochrenaissance in den südlichen Niederlanden, dessen Werke an diesem heiligen Ort verwahrt werden. Skulpturen von de Bruyckere, die auf Holz-Transportpaletten belassen wurden und die Durchgänge säumen, wirken in der Kirche gespenstisch-sakral.
Vom Hauptplatz gelangt man über einen mit bunten Plastik-Blumen dekorierten Tunnel in den Jardin du Mayeur des Rathauses von Mons. Geht man an einem Springbrunnen vorbei um die Ecke, so stößt man auch hier auf Rodin: Die Bronze-Skulptur Les Bourgeois de Calais ist im Rahmen der Sonderausstellung tatsächlich von der Domaine de Mariemont nach Mons gebracht worden. Das Werk verkörpert das Opfer von sechs Männern während der Belagerung von Calais im Jahre 1347 und symbolisiert einen Akt kollektiven Widerstands.
Rodins Skulptur markierte seiner Zeit (1889) einen Wendepunkt zugunsten der Demokratisierung des Denkmals. Indem Rodin mittels einer Gruppe von sechs Individualplastiken auf eine Hauptfigur verzichtete, holte er das Denkmal vom Sockel. Rodin stellte keine mutigen Helden dar, sondern gebückte, zerlumpte Gestalten in ihrer Trauer und Verzweiflung und brach bewusst mit dem Kult des individuellen Heldendenkmals. Im Freien, im Park des Rathauses in Mons, wirkt diese Skulptur um so eindrucksvoller.
Abseits der phantasievollen Metaphorik Victor Hugos über Mons und seine Türme lohnt sich ein Ausflug in die kleine wallonische Stadt in der beschaulichen Region Hennegau in diesen Tagen also nicht allein für Kunstkenner und Liebhaber von Rodins Werk. Eine so umfangreiche und eindrucksvolle Schau wird man sicher nicht so schnell wieder so nah an Luxemburg bestaunen können.