Kein anderer als Immanuel Kant feiert dieses Jahr den 300. Geburtstag. Um das Leben und Werk des wohl berühmtesten Denkers der westlichen Philosophie zu würdigen, zeigt die Bundeskunsthalle in Bonn die Ausstellung „Immanuel Kant und die offenen Fragen“. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Faszinosum Kant zu porträtieren – wie auch das komplexe Biotop, in dem Kant lebte, dachte und wirkte. Seine Reflexionswelt darzustellen, war sicherlich eine Herkulesaufgabe. Um dem Besucher einen roten Faden anzubieten, an dem sowohl der Philosoph als auch seine Philosophie erkundet werden kann, entschied sich das kuratorische Team Agnieszka Lulińska und Thomas Ebers, Kants Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Man begegnet Kant in seinem ganz speziellen Alltag, taucht ein in eine 3D-Welt des Königsbergs im 18. Jahrhundert (heute russisches Kaliningrad) ein und kann Kants Spazierweg in Virtual Reality folgen. Wer ein wenig mit Kant vertraut ist, entdeckt hier schon erste kleine Highlights. Seine eher rigide Lebensführung und seine liebenswerten Eigenheiten, wie der immer gleiche Spazierweg um die immer gleiche Uhrzeit, stellen die Menschlichkeit des großen Denkers anekdotisch dar. Hierzu passen auch der Querschnitt durch Kants Haus, die schematische Darstellung seiner Kleidung, ein echtes Exponat von Kants Schuhen und sogar Haaren, seinem Notizbuch, wie auch eine Nachstellung vom Kantischen Speisetisch – an dem er oft mit Zeitgenossen aß und diskutierte. Auch dies in einer speziellen Form und nach wohl vernünftig durchdachten Regeln, die heutzutage doch ein Schmunzeln verursachen.
Die Ausstellung zeigt das Leben Kants im Stil der Graphic Novel, sehr eingängig und ästhetisch ansprechend, gespickt mit Berichten von Zeitgenossen über ihr Erleben von und Leben mit Kant. So erzählt etwa der Theologe Wasianksi, dass Kant im heißen Sommer am liebsten Seidenstrümpfe trug, die er mit einer eigenen Konstruktion vom Runterrutschen abhielt. Sein ehemaliger Student Reinhold Bernhard Jachmann schildert seinen Lehrer, wie er sich in Gesellschaften verhielt und wie es bei ihm mit der Pünktlichkeit war, und man erfährt von dem viel zu lauten Hahn in Kants Nachbarschaft, der den Philosophen stets am Arbeiten hinderte. Weil der Bauer den Hahn nicht verkaufen wollte, ist Kant dann einfach umgezogen.
Wer am Denken von Kant und an der philosophischen Entwicklung seiner Werke interessiert ist, erhält Einblicke in die damalige Epoche, in der metaphysische Fragestellungen eifrig diskutiert und dogmatische Ansichten von den aufsteigenden Wissenschaften verdrängt wurden. Dies vereinfacht darzustellen ist natürlich kein Leichtes. Die Ausstellung profitiert hierbei von einigen Randerzählungen, die in das Denken der damaligen Zeit einführen. Interaktive Mitmach-Stationen stiften zum – ganz in Kants Sinne – Selbstdenken an: Was sehe ich gerade wirklich? Was ist überhaupt Wahrnehmung? Kann eine Entscheidung frei sein? Dazu versuchen große Tafeln die Hauptgedanken von Kants Theorien verständlich zu machen und sie im damaligen Kontext zu verorten. Wer sich noch mehr mit Text und Buch beschäftigen will, findet nicht nur wertvolle Erstausgaben von Kant und seinen Zeitgenossen, sondern auch ganze Exzerpte aus seinen Schriften, samt Kommentaren von damals bis heute.
Diese Triade der ästhetischen, historischen und hermeneutischen Herangehensweise schafft eine spannende und kurzweilige Atmosphäre. Herausgepickt und groß abgedruckt wurden dazu einschlägige Zitate von Kant, die seinem Anliegen, Reflexion und Urteilskraft zu fördern, Nachdruck verleihen: „Sie werden“, das wiederholte er seinen Schülern unablässig, „bei mir nicht Philosophie lernen, aber – philosophiren; nicht Gedanken bloß zum Nachsprechen, sondern denken.“ – oder: „Will man die Philosophie mit den Scholastikern als ‚Magd‘ der Theologie bezeichnen, so ist es eine Magd, die der ‚gnädigen Frau‘ nicht die Schleppe nach-, sondern die Fackel voranträgt!“
Eine weitere Besonderheit der Ausstellung sind die Exponate von Künstlern, die sich in der Neuzeit oder heute mit Kant befasst haben. Man findet einen Beuys, der sich Kants Kritik der reinen Vernunft mit einer Flasche Maggi-Würze in einen Koffer packte, oder Kant neben Konfuzius, Buddha und Sokrates, ein Werk des Japaners Gahō Hashimoto. Carl Friedrich Hagemann, Zeitgenosse Kants, zeichnete den Königsberger, als er gerade dabei war, seinen Senf zuzubereiten. Eindrucksvoll ist die Tafel von Philipp Goldbach. Der Künstler hat sich der meditativen Aufgabe verschrieben, Seiten der Kritik der reinen Vernunft in Miniaturschrift nachzuschreiben. Lesen kann man das zwar nicht mehr, die Ästhetik des grafischen Kunstwerks ist jedoch ganz besonders. Erwähnenswert ist auch die Fotocollage der Künstlerin Andrea Büttner. Sie hat sich mit Kants dritter Kritik beschäftigt, in der Kant über das reine Wohlgefallen am Schönen oder das Geistesgefühl des Erhabenen, wie auch der für uns zweckmäßig erscheinenden Ordnung der Natur schrieb. Die Künstlerin hat alle Beispiele des Buches bildlich dargestellt, sodass man, wenn man die Theorien der Schrift etwas kennt, dem Gedankengang als Bilderrätsel folgen kann: die Tulpe, der majestätische Berg, der tosende Ozean, tätowierte Ureinwohner, usw. Ganz beeindruckend wirkt abschließend das große Werk von Anselm Kiefer, der einen am Boden liegenden Menschen weiß auf schwarz im Holzschnitt zeigt, über sich nichts anderes mehr als der bestirnte Himmel, der Kant so viel zum Nachdenken anregte. Direkt daneben die letzten Worte Kants: „Es ist gut.“ Die schwierige Denkwelt Kants durch Kunst zu beleben war eine bereichernde Idee – die beweist, dass Kants Schriften nach 300 Jahren auch noch außerhalb der Akademie Wirkung zeigen.
Die Kant-Forschung an den Universitäten hat ein Ausmaß angenommen, das fast schon unüberschaubar geworden ist. Kant wird auf der ganzen Welt studiert, er ist der am meisten diskutierte Philosoph seit jeher. Jahr um Jahr werden Konferenzen und Symposien organisiert, noch dazu erscheint nahezu eine Schwemme an Artikeln und Büchern, sodass eine thematische Redundanz teilweise unumgänglich ist. Die Begeisterung für Kant soll aber nicht nur in der Akademie bleiben. Seine thematische Vielfalt ist so groß, dass jeder Interessierte einen Punkt finden kann, um in Kants Denkwelt einzusteigen, was die Ausstellenden zu nutzen wussten. Natürlich kann heutzutage nicht ignoriert werden, dass Kant Kind seiner Zeit war und es aus unserer Sicht problematische Aussagen im Bereich Rassismus oder Misogynie gab. Allerdings, und auch hier punktet die Ausstellung in Bonn, hilft es dann, Kant mit Kant zu lesen. Seine gründlich ausgeführten Theorien zum Weltbürgerrecht, zum Verbot, Menschen als Mittel zu missbrauchen, und vom Universalismus als eines sich anzunähernden Ideals für das ganze Menschengeschlecht, gilt es den dann doch eher wenigen schwierigen Aussagen gegenüberzustellen.
Nun ist die Frage berechtigt, ob es Sinn macht, den Personenkult um Kant in den Vordergrund zu stellen und somit vielleicht von der Tiefe seines Reflexionsweges abzulenken. Jedoch ist die Ausstellung bemüht, mehrschwelligen Zugang zu Kant und seinem Kontext herzustellen. Dem entsprechend legitimiert sich der Ansatz, und demjenigen, der sich mit genug Zeit durch die Ausstellung bewegt, eröffnen sich viele neue Türen, um die Welt und auch sich und sein eigenes Denken zu betrachten. Da wäre Kant wahrscheinlich zufrieden gewesen.