Zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung im renovierten Resistenzmuseum (siehe Land-Artikel Bastion de Résistance vom 15.03.2024) war der Saal gefüllt mit Polit-Prominenz. Sehr überschaubar war hingegen die Anzahl der Besucher/innen bei der Vernissage der ersten Sonderausstellung am 13. März, die sich unter dem schnöden Titel Vergessene Opfergruppen Randgruppen widmet, die während der deutschen Besatzung in Luxemburg verfolgt wurden. Das mag an der Nähe der beiden Eröffnungsdaten liegen, aber wohl auch daran, dass die neue Sonderausstellung, die tatsächlich im Keller des Resistenzmuseums eingerichtet wurde, sich explizit Gruppen widmet, deren Verfolgungen es bis heute nicht ins kollektive Bewusstsein geschafft haben.
Im Erdgeschoss zeichnet eine Tafel Etappen der Vergangenheitsaufarbeitung in Luxemburg nach. „Was in der Timeline auffällt, ist die Dominanz von Gruppen, in dem Fall der Widerstandskämpfer und der Zwangsrekrutierten-Verbände, die den Erinnerungskampf geprägt haben – das waren die zwei größten. In dem Kampf ist nicht viel Raum für rassistisch Unterdrückte, bei denen es sich zum Teil um sehr kleine Gruppen wie die Zeugen Jehovas oder Homosexuelle handelte, die sich ihren Platz erst durch Interessensvertretungen erkämpfen mussten. Die größte der lange in der Erinnerungsdebatte vergessenen Gruppen waren natürlich die Juden“, streicht Jérôme Courtoy, Co-Kurator der Ausstellung hervor.
Auf der Tafel liest man Eckdaten, darunter wichtige Etappen wie Achtung Zigeuner – die erste Ausstellung über die Haltung der Luxemburger gegenüber Sinti und Roma, die 2007 vom Luxembourg City Museum ins Leben gerufen wurde, der erste Stolperstein, der für Robert Lehmann gelegt, oder eben auch die erste Gedenkveranstaltung der LGBT+-Community, die von Rosa Lëtzebuerg organisiert wurde. „Es waren meist Einzelinitiativen, die von Kulturinstitutionen oder Interessenvertretungen ausgingen“, betont Courtoy.
„Erst nach 2015 wurde die Erinnerungsdebatte nach außen getragen, wurde sie publikumswirksamer“, so Daniel Thilman, der bereits von 2013 bis 2015 als Historiker im Resistenzmuseum gearbeitet hat. „In der Zeit haben wir regelmäßig Anfragen bekommen zum Schicksal von Sinti oder Roma während der NS-Zeit in Luxemburg – Fragen, die wir nicht beantworten konnten, weil es noch keine Forschungsarbeit gab“, erzählt er. Privatpersonen wie Karin Waringo haben im Rahmen einer Asbl schon sehr viel Forschungsarbeit zur Verfolgung von Roma geleistet. „Diese basierte zum Teil auf Zeitzeugenberichten, die sie selbst mit den Nachkommen gemacht haben, bis wir dann 2019 daran angeknüpft haben. Das war der Startschuss für die Recherchen von Daniel Thilman und mir zu der Verfolgung von Sinti, Roma und Jenischen“, so Jérôme Courtoy. Neben den beiden Letztgenannten haben namhafte Historiker/innen wie Vincent Artuso, Kathrin Mess oder Elisabeth Hoffmann (Co-Kuratorin), aber auch André Marques und Frédérique Stroh an der Ausstellung mitgearbeitet.
Steigt man herab ins Untergeschoss, so stößt man als erstes auf die schwarze Robe des Richters Ernest Salentiny (1940 bis 1942 tätig), die einem in einem Glaskasten vor rotem Hintergrund ins Auge springt und die Besucher/innen mahnt: Auch die Justiz war in Luxemburg unter NS-Besatzung nicht mehr unabhängig. Die Gewaltenteilung war ausgehebelt. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Robert Biever hat das Ausstellungs-Team beraten.
Als „vergessene Opfer“ begreift die Ausstellung „Menschen, die bereits vor der deutschen Besatzung sozial ausgegrenzt wurden und damit Menschen, die keinen festen Wohnsitz hatten oder abhängig von staatlicher Fürsorge waren.“ Es handelt sich aber auch um Menschen, die eine andere Lebensweise und Kultur hatten oder einer religiösen Minderheit angehörten. Zu diesen Opfergruppen gehörten auch Menschen mit dunkler Hautfarbe oder einer sexuellen Orientierung oder Identität, die nicht den Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft entsprach, nicht zuletzt auch Menschen mit körperlichen Gebrechen oder psychischen Leiden.
Nach der nationalsozialistischen Ideologie galten diese als „Untermenschen“, „schädliche Elemente“ der arisch-germanischen Gesellschaft oder „lebensunwertes Leben“, die es gemäß dem eugenischen NS-Gedankengut auszugrenzen und zu eliminieren galt.
Die Ausstellung verfolgt einen hehren Anspruch, indem sie zu erklären versucht, warum bestimmte Gruppen als NS-Opfer anerkannt wurden, andere jedoch nicht. In Luxemburg markiere die 2015 erfolgte Entschuldigung der Regierung und des Parlaments gegenüber der jüdischen Gemeinschaft einen Wendepunkt. Marginalisierte gesellschaftliche Gruppen wurden jedoch nur in wenigen Ländern als „Opfer des Nationalsozialismus“ anerkannt. Dies liege laut Courtoy und Thilman an den Traumatisierungen wie auch daran, dass sich viele aus Scham nicht als Opfer zu erkennen geben wollten – nicht zuletzt, weil sie bis heute mit starken Vorurteilen zu kämpfen haben. Bei den als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ klassifizierten Opfern hält sich bis heute zudem die Meinung, diese seien ‚irgendwie zu Recht‘ verfolgt worden.
Kathrin Mess hat anhand des Schicksals von Theresia Müller nachgezeichnet, wie die Fremdzuschreibung als „Asoziale“ die Betroffenen stigmatisierte: „Sie wusste eigentlich selbst gar nicht, wieso sie mit dem Begriff ‘asozial’ bedacht wurde. Das Label der Nationalsozialisten ist ja auch eine Fremdzuschreibung, die nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprach, wie etwa „der Prostitution verdächtigt“ (siehe Interview, „Die Asozialen gab’s gar nicht“ vom 3.12.2021).
Der Historiker Vincent Artuso hat sich im Rahmen der Ausstellung mit der Verfolgung von Menschen mit Behinderung in Luxemburg befasst. Von einer systematischen Vernichtung wie sie in Deutschland als AktionT4 bekannt wurde, könne man ihm zufolge aber nicht sprechen. „Geisteskranke Menschen in Ettelbrück wurden nicht in Vernichtungsstätten nach Deutschland deportiert“, so Artuso. Andererseits sei die Sterblichkeit in Ettelbrück während des Kriegs besonders hoch gewesen. Die Todesrate lag jährlich bei 12 Prozent. Hier könne man von einer gezielten Unterversorgung ausgehen.
Eine Reihe von hölzernen Behältern für Aktenordner, die sich die Besucher/innen rausziehen können, kündet vom Schicksal einzelner. Zugleich sind diese Behältnisse noch recht leer und bieten Platz für neue Forschungserkenntnisse. „Man könnte all diese Aktenbestände noch weiter auffüllen. Wenn wir die Namen hätten, könnten wir nach Opfern suchen. Aber wir sprechen hier von Opfergruppen, die jahrzehntelang vernachlässigt wurden, deren Familienmitglieder nicht nachgeforscht haben, keine Fragen stellten oder immer wieder abgewiesen wurden“, so Thilman.
In einem Schwarzweißfilm kann man am Ende des Rundgangs Interviews mit Vertreter/innen von Betroffenen-Verbänden wie Andy Maar (Rosa Lëtzebuerg asbl.) hören, die an der Ausstellung mitgewirkt haben; statt des obligatorischen Gästebuchs lädt eine Pinnwand die Besucher/innen hier dazu ein, die Ausstellung direkt zu kommentieren. „Gi mir zréck? Näischt aus der Geschicht geléiert? Europa Rietsruck!! Muss daat sinn“, hat ein Besucher etwa auf einen der Zettel geschrieben.
Vincent Artuso sieht die Ausstellung „Vergessene Opfergruppen“ als wichtige Etappe in der Aufarbeitung der Besatzungszeit in Luxemburg: „Weil sie das Bild vervollständigt“ und man so auch die Logik des NS-Systems hier in Luxemburg besser verstehen könne. Klar werde, dass es manche Stereotypen schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben habe. Dass die Menschen seiner Zeit in Rassen eingeteilt waren, sei für viele eine Selbstverständlichkeit gewesen. Was das NS-Regime von anderen Ländern unterschieden habe, war laut Artuso „die Konsequenz in allem, was sie als Strammung des Volkskörpers angesehen haben. Die Volksgemeinschaft wurde als ein Organismus angesehen. Das Individuum galt nicht(s). Es gab nur die Volksgemeinschaft.“
Beim Gang durch die Ausstellung schwirrt einem die Diskussion rund um das Bettelverbot im Kopf, angestoßen durch CSV-Innenminister Léon Gloden und unterirdisch fortgeführt etwa durch Astrid Lulling und Simone Beissel, bei der es vor allem darum ging, das Stadtbild der Hauptstadt rein von bettelnden Roma zu halten. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Wirkmächtigkeit von Zuschreibungen durch eine Mehrheitsgesellschaft, die die verdienstvolle Ausstellung – in gänzlich anderem historischen Kontext – auch präsentiert.
Die Aufmachung und Pädagogik der „Vergessenen Opfergruppen“ ist im Vergleich zur Dauerausstellung weniger plakativ geraten: keine gigantischen Reichsadler, Hakenkreuze, keine nachgebauten Holzbaracken. Wenngleich die recht textlastige Ausstellung Geduld abverlangt, lohnt sich ihr Besuch und die Auseinandersetzung mit dem Aufgeschriebenen.
Sie schärft die Sinne für gesellschaftliche Entwicklungen und Diskriminierungen und zeigt die Ausmaße möglicher Folgen: Ein herrschender gesellschaftlicher Wertekanon sollte daher nie kritiklos übernommen werden. Im Spätsommer wird komplementär zur Ausstellung beim Verlag Op der Lay der zweisprachige Sammelband „Vergessene Opfer des NS-Regimes in Luxemburg“ erscheinen. Wessen Interesse bis dahin geweckt ist, kann hier noch einmal gezielt in die Einzelbiografien eintauchen.