Vielleicht sind die Grünen das auserwählte Volk Gottes. Sie fühlen sich von einer heiligen Mission beseelt: Sie sollen den Planeten retten. Gegen Grünen-Hasser, SUV-Fahrerinnen und Luxair-Tours. Als Gegenleistung beanspruchen sie Respekt und Dankbarkeit. Manchmal werden ihnen Respekt und Dankbarkeit verwehrt. So bei den rezenten Gemeindewahlen. Dann ringen sie mit der Theodizee.
Lange versprachen die Grünen, global zu denken und lokal zu handeln. Das brachte ihnen lokale Stimmen ein. Als behagliche Partei der Glas-Container, Fahrradständer und Feuchtbiotope. Am 11. Juni kandidierten sie in 36 Gemeinden und auf einigen Bürgerlisten. In 30 der 36 Gemeinden verloren sie Stimmen. 83 Prozent Fehltreffer sind keine lokalen Zufälle. Sie sind ein landesweiter Trend.
Die Grünen haben eine treue Stammwählerschaft. Sie schert sich nicht um die Werte der Gründergeneration. Sie war 1983 kaum geboren. Sie findet nichts dabei, den Besitzlosen Maßhalten zu predigen. Sie hält Zweifel an der Verfünffachung der Militärausgaben für altmodisch. Sie hält eine Koalition mit der CSV für einen schlauen Schachzug. Ihr oberstes Anliegen ist der Umwelt- und Klimaschutz.
Die grüne Kernwählerschaft ist Gefangene einer Monopolsituation. Im sozialpolitischen Lager können enttäuschte Wählerinnen von der LSAP zur Linken oder KPL wechseln. Im konservativen Lager können sie zwischen CSV, ADR, und Fokus wählen. Manche Umweltschützerinnen finden die Grünen feige und opportunistisch. Doch sie haben keine bessere Umweltschutzpartei zur Wahl.
Eine Regierungspartei hat Mandate, Posten, Aufträge, Einfluss zu vergeben. Deshalb nehmen ihre Mitgliederzahl und Stammwählerschaft zu. Wie jede Partei geben sich die Grünen nicht mit ihrer Stammwählerschaft zufrieden. Sie wollen Wechselwähler anziehen, um ihren Stimmenanteil zu vergrößern. Eher aus den höhergestellten Klassen. Die untergebenen Klassen überlassen sie der LSAP. Sie wollen Kompetenz in umweltfremden Ressorts beweisen. Die Leute nehmen ihnen das meist nicht ab.
Dagegen wählen Wechselwählerinnen grün, wenn sie von einer ökologischen Krise aufgeschreckt werden: das Waldsterben 1981, der Reaktorunfall von Tschernobyl, die Hitzewelle 2003, der Reaktorunfall von Fukushima... Das bringt Wähler über die Kernwählerschaft hinaus.
Manchmal ist die Zeitspanne zwischen den ökologischen Krisen und den Wahlen zu lang. Dann geraten die Krisen in Vergessenheit. Dann wenden sich die Wechselwähler wieder anderen Themen, anderen Parteien zu.
2018 erreichte der Stimmenanteil der Grünen einen historischen Höhepunkt. Er rettete die liberale Koalition. Nach dem Wahlsieg kamen Covid, Ukraine-Krieg, Zinserhöhungen, Inflation. Das umweltbewusste Kleinbürgertum vergaß die Klimakrise nicht. Aber es bekam kurzfristige Sorgen: die Gesundheit, der Arbeitsplatz, das Einkommen, die Heizung, das Darlehen. Die Umwelt erschien als längerfristiges Problem. Vorübergehend als Luxus für höhere Einkommensschichten.
Die ehemalige Reformkoalition musste eine Krise nach der anderen verwalten. Krisen rufen nach starken Männern und Frauen. Die Covid-Seuche wurde zur politischen Sternstunde von LSAP-Ministerin Paulette Lenert. Die grüne Basis war für und gegen den Lockdown, für und gegen Impfungen.
Energiepreise, Preissteigerungen, Index-Anpassungen, Steuersenkungen wurden in der Tripartite verhandelt. DP-Premier Xavier Bettel glänzte durch Anpassungsfähigkeit und Großzügigkeit. Die grüne Basis war gegen den Tankrabatt, für und gegen den Index und Steuersenkungen.
Die Grünen gehorchten der Koalitionsräson. Zu den kurzfristigen Sorgen der Leute hatten sie nichts zu sagen. Oder wurden nicht gehört. Die Wählerbefragungen seit Mitte 2020 weckten einen Verdacht. Die Gemeindewahlen haben ihn bestätigt: Dass die Grünen derzeit Wechselwähler verlieren. Dass ihre Wählerschaft in Richtung Stammwählerschaft schrumpft.