Die Gemeinde Redingen an der Attert wählt am 11. Juni erstmals nach dem Proporzsystem. Drei Listen bewerben sich. Ihre Standpunkte sind austauschbar wie ihre Namen: Engagéiert Bierger fir d’Gemeng Réiden, Réiden 2023, En neien dynamesche Wand fir Réiden. Auch in der neuen Proporzgemeinde Bettendorf bewerben sich drei Listen: Méng Gemeng – mäin Doheem, Eng Ekipp fir Iech, Eis Gemeng um Wee an d’Zukunft.
Bei den Gemeindewahlen 2017 kandidierten acht Bürgerlisten. Heute sind es 33. Die Grünen haben 36 Listen, die LSAP 39. Die hohe Zahl der Bürgerlisten erklärt sich mit der hohen Zahl neuer Proporzgemeinden.
Die politischen Parteien waren nicht fähig oder willens, in den zehn bisherigen Majorzgemeinden Kandidatenlisten aufzustellen. Ausnahme ist nur Helperknapp, wo DP, CSV und Grüne kandidieren. In Lintgen und Rosport-Mompach tritt eine einzige Partei an, die DP.
Bürgerlisten kandidieren in Landgemeinden, nicht in größeren Städten. Sie verkörpern eine Sehnsucht nach der dörflichen Idylle des Majorzsystems. Das keine Parteien zulässt.
Das Majorzsystem stammt aus einer Zeit, als nur die besitzenden Klassen wahlberechtigt waren. Es verschleiert die Klassengegensätze auf dem Dorf: Einst zwischen Tagelöhnern, Kleinbäuerinnen, Handwerkern, Heimarbeiterinnen, Härebaueren, Notaren, Proprietären. Neuerdings auch Arbeiterinnen, Angestellten, Beamtinnen, Unternehmern, Landarmen. Durchreisende können die Unterschiede an den Hausfassaden ablesen.
Einige Bürgerlisten entstanden aus Bürgerinitiativen gegen Bauprojekte. Auf manchen tun sich Gegner des Schöffenrats zusammen. Nach Streitigkeiten um Listenplätze, Posten, Gemeindefusionen oder Umgehungsstraßen. Trotzig kandidiert in Parc Hosingen die Ein-Mann-Liste De Fräie Bierger.
In neuen Proporzgemeinden kandidieren Parteien unter dem Etikett von Bürgerlisten. Sie lassen sich keine „Politisierung“ des Dorflebens vorwerfen. Sie helfen, Parteipolitik zu diskreditieren. Sie öffnen ihre Listen für Nicht-Mitglieder. Wenn sie nicht genug eigene Kandidaten haben. In Ulflingen kandidiert die CSV diesmal als Oppe Lëst Ëlwen. Die Grünen treten in Lintgen als Di nei Ekipp, in Kopstal als Biergerlëscht an.
Wo die Kirche im Dorf bleibt, will die LSAP niemand mit Worten wie „sozialistesch“ und „Aarbechter“ erschrecken: Sie tritt an als Engagéiert Bierger Lëntgen, Är Leit fir Miersch, in Kopstal als Är Equipe, in Junglinster als Är Bierger, in Bissen und Lorentzweiler als Är Leit. Umgekehrt sind die Listen der Piraten aufgemotzte Bürgerlisten.
In den Gemeinden findet die Reproduktion der Arbeitskraft statt. Die Gemeinden müssen die dafür nötige Infrastruktur anbieten: Wohnraum, Wasser, Schulen, Kindergärten, Sozialamt, Müllentsorgung, Feuerwehr, Fußballfeld. Die Kommunalpolitik entscheidet über deren Preis. Deren Preis entscheidet mit über den Preis der Arbeitskraft.
Unter der Zensur des Innenministeriums können Gemeindeabgaben in die eine oder andere Richtung umverteilen. Dienstleistungen können kostenlos, bezuschusst, kostendeckend oder privatisiert sein. Gemeinden können billigen Wohnraum schaffen oder Komplizen der Bodenspekulation sein. Sie können in Kindertagesstätten und Schulen für gleiche Mittel, für gleiche Chancen oder für Bildungsprivilegien sorgen. Bürgermeisterinnen können sich gegenüber den Besitzlosen rechenschaftspflichtig fühlen oder die Gentrifizierung fördern.
Konservative erklären das Verhältniswahlrecht in Landgemeinden für unnütz. Weil alle Politikerinnen unterschiedslos die Rue du Cimetière instand setzen wollen. Weil alle Kandidaten versprechen, unpolitisch zu verwalten. Das Wort „Bürger“ in Bürgerlisten meint die Staatsbürger. Es steht auch für die politisch und kulturell dominierenden Kleinbürger: Die Bürgerlisten unterscheiden sich kaum voneinander, kaum von den lokalen Parteisektionen. Weil alle aus den Mittelschichten heraus die Mittelschichten bedienen.