Im Norden waren die Gemeindewahlen vor allem für die CSV auch ein Test für die Kammerwahlen. Er ging nicht so gut aus

Aufstiege und Abstürze

d'Lëtzebuerger Land vom 16.06.2023

Die Ettelbrücker LSAP mit ihrem Spitzenkandidaten Bob Steichen traf sich am Wahlabend auf dem lokalen Campingplatz. Die Sonne schien, Kinder liefen umher – fast wie auf einem großen Familienfest. Acht Kilometer weiter östlich saßen die Diekircher Sozialisten im Café Miche wie in einer Höhle verschanzt. Die Stimmung war schlecht, Bürgermeister Claude Thill starrte auf seinen Laptop. Auch Claude Haagen war gekommen und wollte besser nicht angesprochen werden. Was inoffiziell aus den Wahlbüros durchgesickert war, verhieß der LSAP den Verlust von zwei Sitzen und damit der absoluten Mehrheit. In Ettelbrück war die Lage nicht so klar, CSV und LSAP schienen gleichauf zu liegen. So aufregend war der Abend, dass die CSV-Mitglieder auf der Terasse der Pizzeria Galileo noch um 21 Uhr nicht sagen konnten, wo Bürgermeister Jean-Paul Schaaf abgeblieben war. Schaafs Konkurrent Steichen, der Erste Schöffe, hingegen war auf dem Campingplatz mit der lokalen LSAP-Spitze ins Konklave gegangen.

Am Ende gewann in Diekirch die CSV deutlich, in Ettelbrück die LSAP knapp. Im Norden gab es am Sonntag eine Reihe Abstürze aus mehr oder weniger großer Höhe. Die CSV stürzte insgesamt ab: In keiner der vier neuen Proporzgemeinden Bettendorf, Esch/Sauer, Parc Hosingen und Redingen bot sie eine Liste auf. In Ulflingen ebenfalls nicht. 2017 hatte es die CSV im Norden auf insgesamt fast 40 Prozent Stimmenanteil gebracht, am Sonntag ging er auf 27 Prozent zurück. Die Zahl der CSV-Ratsmandate sank von 34 auf 28. Stärkste Partei im Nordbezirk ist sie damit noch immer. Doch von der LSAP (die gleichfalls verlor, zwei Sitze und sieben Stimmenprozentpunkte) trennen die Christlich-Sozialen sechs Mandate und fünf Prozentpunkte. Man könnte sagen: nur. Bei den Kammerwahlen 2018 hatte die CSV die LSAP mit über 16 Stimmenprozentpunkten hinter sich gelassen.

Was das zu bedeuten haben könnte, da die Gemeindewahlen auch ein Test für die am 8. Oktober zum Parlament waren, ist nicht leicht zu sagen. Wahlgewinner, wenn man so will, waren im Norden die gemischten Bürgerlisten. Über sie wurden in den Proporzgemeinden insgesamt 59 Kandidat/innen in Gemeinderäte gewählt; das entspricht nur einem Sitz weniger als denen von CSV und LSAP zusammen. Auf einer gemischten Liste kann aber durchaus Parteiprominenz rangieren. Die auf der Biergerlëst Gemeng Cliärref Viertgewählte Tina Koch zum Beispiel ist Vize-Parteipräsidentin der LSAP.

Clerf ist die Nord-Gemeinde, in der die CSV am meisten verlor: 12,6 Prozentpunkte gegenüber 2017. Damals hatte die Biergerlëst nur 14,2 Stimmenprozente errungen und allein der parteilose Georges Keipes war in den Gemeinderat eingezogen. Am Sonntag dagegen kam die Biergerlëst auf 30,47 Prozent und persönlich schnitt Keipes mit 1 954 Stimmen um 370 besser ab als CSV-Bürgermeister Emile Eicher, der von Keipes am Montag zu „Sondierungsgesprächen“ eingeladen wurde. Es gab Gerüchte zirkulierten, die Bürgerliste werde nicht mit der CSV, sondern mit der DP koalieren. Am Ende entschied sie sich dorch für die CSV. Eicher, künftig Erster Schöffe, führt das Clerfer CSV-Desaster gegenüber dem Land auf die „komplett nei Ekipp“ zurück, mit der er angetreten sei. Was nicht ganz zutrifft: Neben ihm hatten auch Paul Bisenius und Jean-Pierre Schuller bereits 2017 kandidiert. Aber CSV-internen Krach gab es Anfang 2022; im April erklärte Gemeinderat Théo Blasen, sein Mandat als Unabhängiger fortführen zu wollen. Um die knappe Sechs-zu-Fünf-Mehrheit zu retten, ging die CSV 13 Monate vor den Wahlen eine Koalition mit der Biergerlëst ein und Eicher holte Keipes in den Schöffenrat. Der grüne Gemeinderat Jacquot Junk vermutet, das habe die Liste in den Augen vieler atttraktiver gemacht.

Mit Blick auf die Kammerwahlen steht im Norden für keine Partei so viel auf dem Spiel wie für die CSV. 2018 wurden vier Nord-Kandidat/innen direkt gewählt, Martine Hansen, Marco Schank, Emile Eicher und Aly Kaes. Wenn es im Oktober noch dringender als 2018 um den Wiedereinzug in die Regierung geht, die Parteiführung sinngemäß schon erklärt hat, wer beim kommunalen Urnengang verliert, kommt für den im Oktober nicht in Frage, erhält die Abwahl von députés-maires eine zusätzliche Bedeutung. Wer wird mitdürfen? Martine Hansen sicherlich, ihr Status ist überregional. Marco Schank und Aly Kaes treten nicht mehr an. Emile Eicher sagt: „Über die Kammerwahlen haben wir noch nicht diskutiert. Das ist im Moment nicht meine Sorge, wir sind hier am Sondieren.“ Doch wer weiß, was sein wird, falls die CSV in Clerf nicht in den neuen Schöffenrat kommt? Absehbar ist, dass auf der Nordliste für die Kammerwahlen auch Ko-Generalseretär Christophe Hansen einen Platz haben möchte. Den Europaabgeordneten zieht es in die nationale Politik. Der Kandidaten-Pool dürfte durchaus kompetitiv werden. Und am Ende zählt nicht, wer auf der Liste steht, sondern wer in die Kammer gewählt wird.

In Ettelbrück ging der Machtwechsel von der CSV um Jean-Paul Schaaf auf die LSAP um Bob Steichen rasch und geräuschlos über die Bühne. Als die Parteifreunde Schaaf zum Pizzaessen vermissten, stand er in der Aula der Grundschule auf der Place Marie-Adelaïde beim Public Viewing der mittlerweile offiziellen Ergebnisse. „Nein, solche Spielchen mach’ ich nicht“, murmelte er auf die Frage, ob er der DP mit ihren zwei Sitzen eine Koalition anbieten werde, um die Sozialisten auszubooten. In Ettelbrück war schon am Sonntagabend klar, dass CSV und LSAP weiter koalieren, Steichen Bürgermeister wird und Schaaf Erster Schöffe. Der zurzeit Zweite Schöffe Pascal Nicolay von der CSV bleibt es für vier weitere Jahre, die verbleibenden zwei übernimmt Christian Steffen von der LSAP. Dass die CSV nur um 2,6 Prozentpunkte schlechter abschnitt als die LSAP und Schaafs persönliche Stimmenzahl lediglich 226 unter der Schöffen Bob Steichens liegt, könnte Schaafs Chancen auf einen Nord-Listenplatz erhalten. Der neue Ettelbrücker Bürgermeister in spe hingegen erklärte am Mittwoch im Radio 100,7, er trete zu den Kammerwahlen nicht an und wolle sich auf die Gemeinde konzentrieren.

Was für die Nord-LSAP ein strategischer Verlust ist. Zumal ihr Nord-Spitzenmann von 2018, Romain Schneider, vor anderthalb Jahren seinen Abschied aus der Politik genommen hat. Und des Debakels in Diekirch wegen: Dass nach zwölf Jahren die absolute Mehrheit verlorengehen könnte, schlossen die Sozialisten nicht aus. Wenn ein Sitz von sieben verloren und an die Grünen gehen würde, hätte man mit ihnen koalieren können. Minus zwei Sitze aber waren eine Katastrophe. Als Grünen-Spitzenkandidat Frank Thillen zu sehr später Stunde im Café Miche vorbeischaute, lag es wohl nicht nur am mittlerweile beträchtlichen Alkoholpegel, dass ihm frustriert zugerufen wurde: „Wann dir e richtege Walkampf gemaach hätt, da wier et duergaang fir eng Koalitioun!“ Sondern es beschrieb ein Szenario, von dem die LSAP ernsthaft ausgegangen war. Nicht aber davon, dass die CSV um Charles Weiler und die DP um José Lopes Gonçalves sie ablösen könnten.

Den neuen Diekircher Bürgermeister, Sohn des früheren CSV-Kammerfraktionschefs, Kammerpräsidenten und zuletzt Hofmarschalls Lucien Weiler, den rising star der CSV im Norden zu nennen, ist nicht übertrieben. Wobei die LSAP sich den Verlust der Macht wohl auch selber zuzuschreiben hat. Und der „Methode Haagen“, mit der Claude Haagen als Bürgermeister die Gemeinde führte; vor allem in seiner zweiten Amtszeit von 2011 bis 2021 (die erste dauerte von 2001 bis 2005). Dinge durchboxen, nicht zu viel diskutieren, war sein Ansatz. So ähnlich wie der Anfang 2022 zum Sozialminister Gewordene vergangenen Herbst im Radio versprach, er werde keine Monate brauchen, um sich den richtigen Tarif für Psychotherapeuthen einfallen zu lassen. Bei dessen Durchsetzung er jedoch die Verfassung ein wenig bog, weil alles sonst viel länger gedauert hätte. Sein Nachfolger Claude Thill auf dem Diekircher Bürgermeisterstuhl ging nicht so vor, hatte aber wenig Zeit, den eigenen Stil zur Geltung zu bringen. Und musste vermutlich quittieren, dass so manchen Bürger/innen jene Projekte Haagens zu viel geworden waren, die nach Abenteuer, wenn nicht gar Affären rochen, wenn Kunde darüber aus dem Gemeinderat an die Stammtische drang. Wenn das Verwaltungsgericht mit einem zu tun bekam, natürlich auch.

Vielleicht war Diekirch auch eine jener Nordgemeinden, in denen den Grünen zuzutrauen gewesen wäre, mehr zu erreichen als den einzigen Ratssitz zu verteidigen. In dem Notabelnstädtchen lebt es sich nicht schlecht. Doch über 15 Stimmenprozent waren die Grünen in Diekirch nie hinausgelangt. Und wie beinah überall im Land, wird ihnen auch in Diekirch alles mögliche angelastet. Aufgerissene Bürgersteige, wenn ein Radweg angelegt werden soll. Die gestiegenen Spritpreise, zumal der Energieminister in Diekirch wohnt. Wenig Ahnung von einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft zu haben. Und: Klimamoral zu predigen, aber sie selber zu verraten, wie Parteipräsidentin Djuna Bernard mit ihrer Flugreise zu den Luxo-Brasilianern Ende März. Die war dem Vernehmen nach tatsächlich ein Wahlkampfthema in Diekirch. Da half auch noch so viel lokales Engament in der Gemeinde nicht. Wie es den Grünen auch in Clerf nicht half. Schlimmer noch: Dort büßten sie sechs Stimmprozent und einen ihrer zwei Ratssitze ein. Dafür errang die ADR ein Mandat und überrundete die Grünen um ein halbes Stimmprozent.

Ein besonderer Machtwechsel spielte sich in der Gemeinde Vianden ab, der mit Claude Tonino ein LSAP- und OGBL-Mitglied vorstand. Am Sonntag wurden Tonino und sein ganzer Schöffenrat abgewählt; die Sieger waren in den zwei Wochen vorher Gegenstand von Facebook-Diskussionen gewesen, in denen ihnen vorgworfen wurde, in Vianden nicht angemeldet zu sein.

In Wiltz verlor mit Frank Arndt ebenfalls ein LSAP- und OGBL-Mann den Bürgermeisterstuhl. Wobei die Wiltzer LSAP sogar damit gerechnet hatte, stärker unter die Räder zu kommen. Immerhin wird gegen Arndt wegen des Verdachts auf Korruption ermittelt. Am Ende verlor die LSAP nicht zwei ihrer sechs Ratsmandate, sondern nur eines, nicht an Koalitionspartnerin CSV, sondern an die DP. Und mit 38,58 Prozent der Stimmen (2017: 45,45%) war ihr Resultat in Wiltz sogar ihr im Norden bestes, knapp drei Punkte über den 35,67 Prozent in Ettelbrück. Arndt setzte sich mit 1 592 persönlichen Stimmen deutlich vom Bestgewählten der CSV ab, dem Ersten Schöffen Albert Waaijenberg (1 246 Stimmen). Wenngleich Arndt 224 Stimmen weniger errang als 2017.

Vielleicht reicht der Anker der LSAP in der Arbeiterstadt tief genug, dass Affären dem solange nichts anhaben können, wie die juristische Unschuldsvermutung gegenüber Arndt gilt. Und es ist nicht ohne Ironie, dass die laut RTL-Meldungen von den Parteizentralen von CSV und DP beeinflusste Koalitionsbildung beider Parteien in Wiltz zu Krach in der lokalen CSV führte, zum Parteiaustritt des Schöffen Patrick Comes und zu einem ganz neuen und unerfahrenen Schöffenrat. Dass Ex-CSV-Schöffe Comes erklärt hat, das sei „gefährlich“, ist natürlich pikant.

Die im landesweiten Vergleich gestärkte DP blieb im Norden ziemlich stabil, verbuchte ihre besten Resultate in Diekrich und Wiltz. Hinzuzufügen wäre, dass DP-Regionalpräsident Eric Thill sein Bürgermeisteramt in der Majorzgemeinde Schieren verteidigte und der Abgeordnete André Bauler Erstgewählter in Erpeldingen wurde. Denn Erpeldingen und Schieren sind neben Ettelbrück, Diekirch und Bettendorf Fusionskandidaten zur Nordstad. Die Frage, wie es mit ihr weitergeht, stellte sich am Sonntag zumindest implizit. In Ettelbrück ist der neue LSAP-Bürgermeister ähnlich für die Fusion wie Jean-Paul Schaaf. In Diekirch dagegen hatte DP-Spitzenkadidat José Lopes Gonçalves Wahlkampf gegen eine Fusion aller fünf Norstad-Gemeinden gemacht; Charles Weiler hatte sich nicht ganz klar für eine Fusion zu fünft geäußert. Eric Thill ist als Bürgermeister ebenso für die Fusion wie die DP-Regionale und die Zentrale der Partei. Wie André Bauler sich positioniert, falls er in Erpeldingen Bürgermeister wird, bleibt abzuwarten: Als er das Amt zwischen 2011 und 2013 bekleidete, hatte er zu dem politischen Projekt Nordstad viele Einwände. Vorläufig aber erheben sowohl er als auch Amtsinhaber Claude Gleis Anspruch auf den Posten; nur 36 Stimmen trennen beide. Gleis befürwortet die Fusion zu fünft ähnlich wie sein Ettelbrücker Parteifreund Jean-Paul Schaaf. Ob in Bettendorf der neue Bürgermeister José Vaz do Rio heißen wird, steht noch nicht fest. Der bisherige Erste Schöffe hatte auf der Bürgerliste Eng Ekipp fir Iech kandidiert und im Wahlkampf erklärt, zur Nordstad-Fusion keine Meinung zu haben.

Sicher ist, dass die Schöffenräte der fünf Gemeinden klären müssen, wie es weitergeht. Ob sie die Gemeideräte über eine Absichtserklärung zur Fusion abstimmen lassen, worauf der Fusionsprozess eingeleitet würde, Referendum inklusive. Was geschehen wird, ist nicht abzusehen. Doch wenn die Bürger/innen zu der Fusion Ja sagen, könnte es sein, dass in den fünf Nordstad-Gemeinden vor 2029 Zwischenwahlen stattfinden.

Peter Feist
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