Die LSAP gewinnt in Esch die Wahlen, doch es reicht nicht, um zurück an die Macht zu kommen. Die CSV, die nur leicht verloren hat, will die Koalition mit DP und geschwächten Grünen fortsetzen

So zerronnen

Die Escher LSAP kurz vor der Verkündung ihres Wahlsiegs, nur Arbeitsminister Georges Engel  ist entspannt
Foto: Luc Laboulle
d'Lëtzebuerger Land vom 16.06.2023

Steve Riesengroß war die Freude bei den Escher Sozialisten, als um 22.10 Uhr das letzte der 38 Wahlbüros seine Stimmenauszählung veröffentlichte und nach einem stundenlangen Kopf-an-Kopf-Rennen klar war, dass die LSAP wieder stärkste Kraft in der Minettmetropole ist. Der Zweitgewählten Liz Braz war es als erster aufgefallen, weil sie fast im Sekundentakt die RTL-App mit den Wahlresultaten auf ihrem Smartphone aktualisierte. Sie hüpfte und schrie vor Freude und fiel ihrem Spitzenkandidaten Steve Faltz um den Hals. Danach umarmten sich auch die anderen Kandidat/innen und die vielen Mitglieder und Sympathisant/innen, die sich vor dem Café Le Pirate in Lallingen eingefunden hatten. Sie riefen „oh, wéi gäil“ und stimmten Sprechchöre an: „On a gagné“, „ici c‘est Esch“ und „ici c‘est Steve“ schallte es durch die Straßen des großen Stadtviertels, das die LSAP 2017 an die CSV verloren hatte und mit dem gebürtigen Lallinger Faltz unbedingt zurückgewinnen wollte. Innenministerin Taina Bofferding sprach von einer lang ersehnten Revanche, und der Spitzenkandidat erzählte Journalist/innen, es sei jetzt an der LSAP, eine Koalition zu bilden. Manche seiner Parteikolleg/innen sahen in ihm schon „den neie Buergermeeschter vun Esch“.

Nur wenige Minuten später verließen Steve Faltz und sein politischer Berater Marc Limpach, Präsident der Fondation Robert Krieps, die Menge und zogen sich in eine stille Ecke zurück. Auch die Dauphine Liz Braz gesellte sich zu ihnen. Sie riefen Meris Sehovic von den Grünen und Daliah Scholl von der DP an, um mit ihnen über eine „progressive Koalition“ zu sprechen, wie Faltz sie seinen Wähler/innen in den vergangenen Wochen versprochen hatte. Doch zu dem Zeitpunkt saßen die beiden schon mit Bürgermeister Georges Mischo von der CSV im Escher Rathaus, um über die Fortführung ihrer Dreierkoalition zu reden.

Bei der Escher DP, die im Restaurant K116 in der Kulturfabrik versammelt war, herrschte zu dem Zeitpunkt trotz leichter Zugewinne keine Feierlaune. Der Präsident der Jungdemokraten, Michael Agostini, der auf der Escher DP-Liste nur Sechster geworden war, analysierte die Resultate in anderen Gemeinden und auch Jean-Marc Assa, der trotz eines engagierten Wahlkampfs nur Fünfter wurde, zeigte sich über sein persönliches Resultat enttäuscht. Andere Mitglieder sinnierten darüber, dass Pim Knaff wohl der nächste Kulturminister werde.

Während die Christsozialen gediegen in ihrem Stammlokal, der schicken Vinothek Drupi’s, feierten (die dem Ehemann ihrer Kandidatin Annick Thil gehört), saß Umweltministerin Joëlle Welfring gegen 22.45 Uhr mit Kandidat/innen auf der Terrasse des von Geflüchteten betriebenen Restaurants Chiche in der Alzettestraße, wo die Grünen den Wahlabend bei Falafel, Hummus und Baba Ghanoush verbrachten. Die Stimmung war gedrückt, seit 1999 waren die Grünen in Esch nicht mehr unter zehn Prozent gefallen und es schien ihnen fast etwas peinlich zu sein, dass ihre beiden Erstgewählten Meris Sehovic und Mandy Ragni sich gerade mit CSV und DP im Rathaus trafen, wo CSV-Bürgermeister Georges Mischo kurze Zeit später vor der RTL-Kamera verkünden sollte, dass die drei Parteien Sondierungsgespräche aufnehmen würden.

Mischo ließ sich vom Wahlsieg der LSAP nicht beeindrucken. Seine Partei hat zwar 1,3 Prozent an Wählerstimmen eingebüßt, während die LSAP 1,7 Prozent hinzugewonnen hat, doch der Vorsprung der Sozialisten beträgt nur 0,04 Prozent bei gleicher Sitzanzahl. Nicht zuletzt hat Mischo insgesamt 463 Stimmen mehr als Faltz und die CSV bekam 2 033 Listenstimmen mehr als die LSAP, die ihrerseits 2 069 mehr Einzelstimmen als die CSV erhielt. Von einem eindeutigen Wahlsieg der So-zialisten kann nur bedingt die Rede sein, sie haben sich lediglich auf dem Niveau stabilisiert, auf das sie 2017 gefallen waren, als sie 10,62 Prozent und drei Sitze einbüßten.

Königsmacher Die LSAP zeigte sich am Montag in einer Mitteilung enttäuscht, dass keine der anderen Parteien den Hörer abgehoben und mit ihr geredet hat. Insbesondere von den Grünen hätte man sich etwas anderes erwartet, da der sich in der Öffentlichkeit gerne als linker Grüner inszenierende Co-Parteipräsident Meris Sehovic, der nur ganz knapp vor der früheren Schöffin Mandy Ragni auf dem ersten Platz gelandet ist, vor den Wahlen seine Präferenz für ein Bündnis mit LSAP und Déi Lénk ausgedrückt hatte. Da die Grünen am Sonntag ihren dritten und die Linke ihren zweiten Sitz verloren, während die LSAP den siebten Sitz knapp verpasste, reicht es jedoch nicht für eine rot-grün-rote Mehrheit.

Königsmacher ist in diesem Jahr eindeutig die DP, die genau wie die LSAP um 1,7 Prozent zulegen konnte und nun auf 10,85 Prozent kommt. Nach 1999 (10,98%) ist es das zweitbeste Resultat, das die Liberalen je in Esch erzielen konnten. Ihr Schöffe Pim Knaff hatte jedoch schon vor den Wahlen erklärt, dass er eine Fortsetzung des Bündnisses mit CSV und Grünen einer „Gambia“-Koalition vorziehen würde. Konsequenterweise schließt die DP Sondierungsgespräche mit der LSAP auch nach den Wahlen aus, was hauptsächlich persönliche Gründe hat: Von 2000 bis 2017 drückte Knaff gemeinsam mit der CSV die Oppositionsbank, der politische Wechsel vor sechs Jahren war vor allem für ihn selbst ein historischer Triumph.

Die einzige Alternative für die LSAP, doch noch zurück an die Macht zu gelangen, wäre eine „große“ Koalition mit der CSV. Weil die LSAP zwar mehr Stimmenanteile hält, Mischo bei den persönlichen Stimmen jedoch vor Faltz liegt, würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Auseinandersetzung um das Bürgermeisteramt kommen. 1999, als die CSV mit 29,66 und die LSAP mit 29,25 Prozent fast gleichauf lagen, hatte ein solcher Streit zwischen François Schaack (LSAP) und Ady Jung (CSV) zu Neuwahlen geführt. Zudem haben sich die Fronten zwischen den beiden größten Parteien in den vergangenen sechs Jahren derart verhärtet, dass eine Zusammenarbeit nur schwer vorstellbar wäre.

Tatsächlich ist nicht die CSV in Esch Schuld daran, dass die LSAP wohl weitere sechs Jahre in der Opposition verbringen muss, sondern die Wähler/innen. Sie haben sich eindeutig gegen eine linke Koa-lition ausgesprochen, indem sie sowohl die Grünen als auch Déi Lénk (und die seit 2017 sitzlose KPL) geschwächt haben. Die beiden Sitze gingen an die rechtsextreme ADR und die populistischen Piraten, die um 2,3 beziehungsweise 3,6 Prozent zugelegt haben. Beide haben in Esch eigentlich kaum Kampagne gemacht. Sie hatten zwar regelmäßig Stände in der Alzettestraße, doch insbesondere die Piraten hinterließen den Eindruck, als würden sie dort eher zelten als mit Wähler/innen das Gespräch suchen. Dass beide nun im Escher Gemeinderat sind (für die Piraten ist es das erste Mal überhaupt), hat wohl vor allem nationalpolitische Gründe.

Die Escher LSAP muss sich eigentlich nicht beklagen. Weder ihre politischen Gegner, noch viele Sympathisant/innen hatten ihr zugetraut, dass sie mit einer jungen und größtenteils unerfahrenen Mannschaft ihre sechs Sitze verteidigen würde. Bemerkenswert ist, dass mit Liz Braz und Enesa Agovic zwei junge Frauen in den Gemeinderat einziehen, die bislang noch kein politisches Mandat hatten. Liz Braz, Tochter des früheren grünen Vizepremierministers Felix Braz, erhielt in Esch hinter Mischo und Faltz die drittmeisten Stimmen. Noch beeindruckender ist vielleicht das Resultat der Deutschlehrerin Enesa Agovic, die ohne prominente Verwandte oder frühere Sportlerkarriere das fünftbeste Resultat (noch vor CSV-Schöffe André Zwally) in Esch erzielte. Zwar haben in Esch viele Kandidat/innen, deren Familien während der Jugoslawienkriege nach Luxemburg gekommen sind, gut abgeschnitten: Meris Sehovic wurde Erster bei den Grünen, Aldin Avdic (LSAP), Dejvid Ramdedovic (CSV) und Amela Skenderovic (DP) haben den Einzug in den Gemeinderat nur um wenige Stimmen verpasst. Enesa Agovics Erfolg lässt sich aber nicht alleine auf die Unterstützung dieser Community zurückführen. Sowohl Agovic als auch Braz dürften, neben dem ehemaligen Handballnationalspieler Sascha Pulli (der bereits 2018 bei den Kammerwahlen kandidierte und am Sonntag Platz vier auf der LSAP-Liste belegte), heiße Anwärterinnen auf einen Listenplatz für die Kammerwahlen im Oktober sein. Enttäuschend ist die Wahl hingegen für den bisherigen LSAP-Oppositionsführer Stéphane Biwer und die Gemeinderät/innen Joëlle Pizzaferri, Nelly Fratoni und Mike Hansen verlaufen. Vom (noch) aktuellen Gemeinderat haben nur Ben Funck und Jean Tonnar den Wiedereinzug geschafft.

Von der CSV wurde mit Joy Weyrich nur eine Frau direkt gewählt, nicht wiedergewählt wurden die Gemeinderät/innen Catarina Simoes und Jacques Muller. Die ersten fünf Plätze auf der CSV-Liste belegen aber Männer, die bereits im Schöffen- und Gemeinderat vertreten sind. Auch bei den Grünen und der DP wurden mit Meris Sehovic und Pim Knaff zwei Männer Erstgewählte, so dass der nächste Schöffenrat wohl erneut ausschließlich aus Männern bestehen wird. In der vergangenen Legislaturperiode war Mandy Ragni die einzige Frau im Schöffenrat, 2019 trat sie ihr gesplittetes Mandat an Christian Weis von der CSV ab. Genau wie Daliah Scholl (DP) wird sie ihre Partei im Gemeinderat vertreten. Bei der Linken konnte der frühere Abgeordnete Marc Baum sich gegen die beiden Co-Spitzenkandidat/innen durchsetzen. In zwei Jahren wird aber voraussichtlich Line Wies wieder für ihn in den Gemeinderat hinein rotieren. Der andere linke Spitzenkandidat, Samuel Baum, war am Sonntag sehr enttäuscht über den Sitzverlust und auch über sein persönliches Resultat.

Transition Gestern haben CSV, DP und Grüne ihre Sondierungsgespräche abgeschlossen und wollen nächste Woche mit den Koalitionsverhandlungen beginnen. Insbesondere für die Grünen, die wegen ihres Sitzverlusts eine schwächere Ausgangsposition als 2017 haben, dürften sie nicht einfach werden. Ihr Wahlversprechen, aus Esch die „Capitale de la Transition“ zu machen, wäre mit der ökosozialistischen Linken und der LSAP wohl leichter einzuhalten gewesen als mit DP und CSV. Erst vor zwei Wochen hatte Kulturschöffe Knaff den Ausschluss eines Projekts von Cell aus dem Kulturzentrum Bâtiment 4 dekretiert. Cell gehört neben Transition Minett zu den Hauptakteuren der ökologischen Transition in Esch. Sollte es Meris Sehovic, Mandy Ragni und dem Sektionspräsidenten Andy Bausch gelingen, die Delegationen von Pim Knaff und Georges Mischo davon zu überzeugen, alle öffentlichen Gebäude mit Fotovoltaikanlagen und Wärmepumpen auszustatten, werden sie in anderen Bereichen wie Sicherheit, Wohnungsbau, Kultur und Umweltschutz Abstriche hinnehmen müssen. Sehovic, der sich einen besseren Einstand in seiner Wahlheimat Esch gewünscht hätte, wird sich an seinen vor den Wahlen geäußerten Ansprüchen messen lassen müssen. Sie sollten auf jeden Fall höher sein als die seines Vorgängers Martin Kox, der 2017 zwar mit nur einem Prozent Zuwachs einen dritten (Rest-)Sitz ergattern konnte, am Sonntag aber von den Wähler/innen unmissverständlich abgestraft wurde, indem sie sein persönliches Resultat halbierten.

Als Bedingung für eine Koalition hatte Sehovic vor den Wahlen das Mobilitätsressort genannt, das die Grünen in ihrer 23-jährigen Beteiligung im Schöffenrat nach dem Rückzug von Felix Braz aus der Kommunalpolitik 2011 erst der LSAP und 2017 der CSV überlassen mussten. Sollten sie es diesmal erneut nicht zurückbekommen und trotzdem ein Bündnis mit CSV und DP eingehen, würden sie auch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verlieren – war der flächendeckende Ausbau des Radwegenetzes und des öffentlichen Transports doch ihr wichtigstes Wahlkampfthema. Die DP hatte mit kostenlosem Kurzzeitparken geworben, die CSV sogar damit, dass „Escher Leit“ mit einer Parkvignette künftig eine Stunde gratis in anderen Vierteln halten dürfen. Vor den Wahlen hatten die Grünen sich noch über die CSV-Forderung lustig gemacht, die einen Anreiz schafft, für kurze Strecken das Auto zu benutzen. Jetzt müssen sie sie als Koalitionspartner möglicherweise selbst umsetzen.

Luc Laboulle
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