Es ist möglich, am Wahlsonntag durch Linz zu fahren, ohne ein einziges Plakat der ominösen Partei MFG zu entdecken, während die ersten Prognosen die neue Gruppierung Menschen Freiheit Grundrechte schon in den oberösterreichischen Landtag einziehen sehen. Gleichzeitig zeichnet sich 200 Kilometer südlich bei der Kommunalwahl in Graz eine Überraschung ab, die zunächst nicht einmal die Hauptgewinnerin glauben kann. „Das ist ein Fehler, oder?“, fragt Elke Kahr, Vorsitzende der Kommunistischen Partei, als der dunkelrote Balken in der Grafik zur Hochrechnung den schwarzen ÖVP-Balken überholt. Die „Rote Elke“ hebelt nach 18 Jahren den konservativen Bürgermeister Siegfried Nagl aus dem Amt, die zweitgrößte Stadt Österreichs steht vor einer kommunistischen Stadtregierung.
Gleichzeitig mit der deutschen Bundestagswahl fanden in Österreich zwei Urnengänge statt, deren Ergebnis als Stimmungsbild nicht nur der Regierung, sondern den etablierten Parteien an sich zu denken geben muss. In Oberösterreich, in der Bevölkerungsstatistik Österreichs hinter Wien und Niederösterreich an dritter Stelle, geprägt von einer Spannung zwischen starker Arbeiterkultur in den Städten und bäuerlicher Prägung in den Regionen, wurde die Landesregierung neu zusammengesetzt. In Graz, der zweitgrößten Stadt des Landes, ging es um den Gemeinderat. In beiden Fällen stand eine schwarz-blaue Koalition an der Spitze, die Konservativen dabei mit jeweils langer Tradition als führende Partei in wechselnden politischen Bündnissen. In beiden Wahlen stürzten die Freiheitlichen vom Sitz des Kopiloten.
In Oberösterreich konnte sich zwar der konservative Landeshauptmann Stelzer über einen leichten Zugewinn freuen und wird für weitere sechs Jahre an der Spitze der Landesregierung stehen. Doch die Farbenlehre im Landtag wird neu definiert: Die zuletzt zweitstärkste Kraft FPÖ strich heftige Verluste ein und ist nun gleichauf mit den Sozialdemokraten, die Grünen gewannen einen Sitz, als Neulinge im Landesparlament erreichte MFG mit drei Mandaten auf Anhieb Fraktionsstärke, die wirtschaftsliberalen Neos mischen mit zwei Mandaten mit.
Das ominöse Bündnis MFG hatte sich erst im Februar gegründet und bezieht sowohl seine Intention als auch sein Personal aus der Hemisphäre der Impfskeptiker und der Kritiker der Maßnahmen gegen die Covid-Pandemie. „Wir sind die Partei, die die Macht für die Bevölkerung wieder zurücknimmt und an die Bevölkerung weitergibt“, heißt es in den Statuten. Den Wahlkampf musste die heterogene Gruppe mit einem Quasi-Nullbudget bestreiten und trat auf den gewohnten Wegen kaum in Erscheinung, traf aber in einer aufgeheizten Stimmung angesichts des Corona-Empörungspotentials einen Nerv. Vor allem den Freiheitlichen, denen es in der Nach-Strache-Ära an Themen jenseits von Flüchtlings-Hysterie mangelt und die ebenfalls auf Covid-Maßnahmen-Gegnerschaft als einziges Thema setzten, nahm MFG Stimmen weg – allerdings fischten sie auch im bürgerlichen Teich.
In Graz setzte FPÖ-Chefin Kahr einen erfolgreichen Weg fort, der mit den jetzt auftauchenden Witzchen von „Stalingraz“ und „St. Leninhard“ (für St. Leonhard) wenig Berührungspunkte zu haben scheint. Im ideologischen Fundament der steirischen KPÖ machen Kritiker zwar stalinistische, bolschewistische Positionen aus und verweisen unter anderem auf den Fernsehauftritt eines Grazer KPÖ-Funktionärs im weißrussischen Staats-TV mit lobenden Worten für den Staatschef Lukaschenko. Den Wahlkampf gewann Kahr jedoch nicht mit ideologischen Parolen, sondern als eine Art Schutzmantelmadonna mit rotem Umhang.
Die Politikerin, die seit 2011 die Grazer Stadtpartei lenkt und bereits als Vizebürgermeisterin und Stadträtin die Geschicke der Murmetropole mitbestimmte, hat sich als Sozialpolitikerin mit hoher Glaubwürdigkeit etabliert. Sie hält Sprechstunden ab, in denen sie dem sprichwörtlichen „kleinen Mann“ zuhört und in jedem Einzelfall eine Lösung sucht: sei es ein Mietrückstand wegen Arbeitsunfähigkeit nach einem Unfall, sei es der Bedarf einer barrierefreien Wohnung nach einer Krankheit. Wie ihr Gemeinderatskollege Robert Krotzer behält sie von ihrem Gehalt nur 1 950 Euro und speist mit dem größeren Teil den parteieigenen Sozialfonds. In den Augen der Menschen ist „die Elke“ auch in ihrem bescheidenen, unauffälligen Erscheinungsbild keine „typische Politikerin“ – und genau mit diesem antipolitischen Impetus betrieben die Grazer Kommunisten einen professionellen Wahlkampf.
„Anders als die anderen“ und „Helfen statt reden“ – gegen derlei Watschen für klassische Politik kam der seit 18 Jahren amtierende Bürgermeister Siegfried Nagl mit seinen säuselnden „Alles geben für Graz“- Slogans nicht an. Der Konservative, der seit fünf Jahren mit den Freiheitlichen in Koalition regiert, hatte die Wahl selbst vorgezogen und sich dabei gehörig verrechnet: Großmanns-Projekte wie eine U-Bahn für die 350 000-Einwohner-Stadt und eine Stadtplanung, die statt klimagerechter Gestaltung auf immer weitere Bauprojekte setzt, brachten selbst parteiintern die Gemüter gegen „Beton-Siegi“ auf.
Die Freiheitlichen setzten auf das bekannte Motiv Flüchtlingshetze, konnten damit aber keine Meter machen und sind in der Grazer Stadtregierung nur mehr mit einem Sitz vertreten. Dass die Grünen in beiden Wahlen immerhin leicht dazu gewannen, ist für die Partei nur ein kleiner Trost – es gelang nicht, das brennende Klimathema als wahlentscheidend zu positionieren. Der Sieg einer Quasi-Sozialarbeiterin hier und einer sich dezidiert anti-politisch definierenden Achtsamkeitsguerilla dort jedenfalls ist für die etablierten Parteien, vor allem für die regierende Koalition, ein Schlag ins Gesicht.