Eine verderbte Stadt, eine ganz und gar verderbte und verdorbene Stadt, thomasbernharde ich vor mich hin, kaum habe ich den Fuß auf badischen Boden gesetzt. Vorbei an Häusern mit blinden Fenstern, ansehnlichen, einst angesehenen Häusern, aber keiner scheint sie mehr anzusehen. Dann stehe ich auf einem Brücklein über einem anmutigen Flüsschen, aus dem ein grausiger Gestank aufsteigt. Das Brücklein heißt Kaiser Franz Josef.
Es ist ein eisiger Aprilabend mitten im Lockdown. Am Josefsplatz steht eine Bahn wie aus dem Spielzeugmuseum, von der Wiener Oper braucht sie ein knappes Stündchen bis hierher ins Herz des Biedermeierjuwels, der Kurstadt Baden. Ein paar Jugendliche frieren und lachen. Unterwegs ins Zentrum sind die Schaufenster voll von Süßem. Nur Süßem. Die Kleider sind süß, das Essen ist süß, der Schmuck ist süß. Süß, aber geschmackvoll, alles geschmackvoll. Die Blumenarrangements sind schlicht, aber von erlesener Schlichtheit. In einem Schmuckgeschäft schimmern Diademe, diskret.
Dann sprudelt ein Bächlein vor die Füße, Wassergasse heißt die Gasse. Wasser gibt es in Hülle und Fülle, hier quillt es, da plätschert es, hier eine Therme, da ein Römerbad, das Elementare und die Geschichte fließen ineinander über. Überall Rehas, in denen müde Glieder wieder zum Leben erweckt werden. Und immer wieder Pavillons, sie heißen Franzensbad, Frauenbad, Leopoldbad, usw. Statt Wasser gibt es dort jetzt Kunst, eines, das neben dem stinkenden Fluss, ist ein Hamam. Wasser, das einzig Lebendige hier. Immerhin.
Am nächsten Tag ist alles anders. Es ist mild, schon bin ich milde gestimmt. Wie oft beim Woanderssein ist der gleiche Ort immer ein anderer, ich bin eine Andere, und das über den Ort vorschnell gestülpte Urteil, das Vorurteil, wird einem neuen weichen.
Es ist plötzlich so italienisch hier. Jungfamilien mit Dreijährigen auf Laufrädern. Kinder rennen johlend um die im erblauten Himmel golden gleißende Pestsäule, wie ein Karussell schaut das aus. Vor dem Eispeter steht ein Schlange Maskierter, einer der wenigen Orte an dem man etwas erstehen kann. Schauen Sie doch rein! winkt mich eine schwarzhaarige Dame in das Teppichgeschäft, vor dem ich einen am Schaufenster angeklebten Artikel lese. In dem es um eine charismatische Teppichgeschäftbesitzerin in Baden geht. Während sie mir ihre persischen Teppiche einzeln vorstellt, merke ich, dass ihr Antlitz nackt ist, meines auch, o Gott! Ich ergreife die Flucht, in das Gotteshaus gegenüber. Am Eingang stehen Weihwasserfläschchen zum Mitnehmen, gratis, wow! Schon versinke ich in den Fleischbergen des Nebenaltarbildes, ein Putterich glotzt auf das einladend ausladende Gesäß, das das Altarbild domina-iert. Kopie von Correggio, war mal Hauptaltarbild. Kamen bestimmt viele gerne zur Anschauung, mal was anderes als ein Ausgemergelter auf einem Kreuz.
Eine Seitennische ist Kaiser Karl selig gewidmet. Karl Habsburg hat also einen Opa, der nicht nur Kaiser war, sondern ein Heiliger light! In einer Art Monstranz entdecke ich ein Krümelchen. „Ein Teil von Kaiser Karl,“ weiß der Herr mit dem ebenfalls pudelnackten Ebenbild – Gottes – Antlitz, der die Kerzen füttert. Welchen genau weiß er aber nicht, flugs wählt er eine Handynummer. Monsignore, was ist das für ein Teil von Kaiser Karl in der Karlskapelle? Monsignore, ich bin in Italien! Ein Knochenteilchen, belehrt uns Monsignore.
Beseligt von Karlskrümeln, Fleischorgien und Wunderwässerchen schwebe ich hinaus, weiter, bis zu einem großlettrigen PUNSCH-Schild, es wird immer himmlischer! Nur dass es den Punsch nicht gibt, aber ein Stifterl. Mit diesem Oma-Weinfläschchen und einer Sektflöte aus Plastik, die ich bekomme, weil ich so eine wunderschöne Frau bin, Baden wird immer schöner, installiere ich mich auf einer der Bänke vor der Pestsäule, auf der ein Weib im Négligé neckisch einen Totenschädel kost. Diese Pestsäule ist viel erotischer als das Geschwulstkonglomerat in Wien.
Die Heiligen in Baden schauen nicht so gequält aus wie die üblichen Heiligen. Versonnen lächelnde Madonnen, zärtlich sich Berührende mit Heiligenschein begegnen mir auf Hausreliefs, in schäbigen Kapellen, eine Kopftuchfrau flirtet mit einem Langhaarigen, ist es Jesus?
„Corona-Widerstand, Hände weg von unsern Kindern!“ klebt auf dem historischen Mistkübel (dt.: Abfalleimer), in Baden strotzen selbst die Mistkübel vor Geschichte, auf dem einfallslos „Hauptplatz“ benannten Hauptplatz. Ab sechs ist die Stadt menschenleer, unterwegs höchstens noch einzeln Hastende, ein paar aus den Reha-Reservaten ausgewanderte Nordic Walkerinnen, Jungfamilien. Das Puppenstädtchen aus dem Speckgürtel Wiens scheint nicht nur für satte Pensionist_innen attraktiv zu sein, auch für Bobos scheint es ein gedeihliches Biotop zu sein. Werden diese Kinder einen Schock erleiden, wenn sie in eine richtige Stadt kommen?
Im Kurpark die letzten Jugendgrüppchen, junge Migrant_innen treffen sich. In der Stadt wirken sie wie Fremd-Körper. Ein paar Bilderbuchbahnstationen entfernt ist Traiskirchen mit der größten Flüchtlingsunterkunft des Landes. Vor Jahren, mühelos passierte ich die Eingangskontrolle, sah ich dort Kinder zwischen Urinpfützen und Scherben, zugekotete Toiletten, Schlafsäle mit Stockbettgerüsten. Wie anders später beim offiziellen Presse-Rundgang! Nachher stieg ich in die Bahn, fuhr wenige Stationen weit, auf einen anderen Planeten, in ein anderes Universum. Im Kurpark Baden promenierten Touristen, Einheimische, junge Migrant_innen, wohl viele aus Traiskirchen zwischen Nymphchen. Ich war in einem Städtchen aus Barock und Biedermeier gelandet, einem Städtchen wie eine Schmuckschatulle.
„Ich sage euch, damals in Dubai!“ dröhnt es über die Kreuzung. Aus dem Künstlerheim, das steht in großen Lettern auf der Fassade. Ein legendärer Ort, an dem u.a. greise Burgschauspielerinnen ihren Lebensabend verbringen, ob dort auch am Hungertuch nagende Poetinnen willkommen sind? Der Gründerin zumindest schwebte Soziales vor. Die Lebensabendnachmittage auf der Veranda scheinen vergnüglich, Geplauder plätschert, immer wieder ertönt ein großes Organ, die große Bühne ist jetzt die Straßenkreuzung. Beim Vorbeigehen sehe ich einen distinguierten Herrn, wie er, eine Arie trällernd, etwas in den Mistkübel im Garten leert. Ein anderes Mal tritt ein Herr mit Hut und einem tracht-inspirierten Sakko heraus. Vor einem Löwenzahn auf dem Gehweg beugt er sich, verbeugt sich.
Eine prominente Sterndeuterin lebt im Paralleluniversum Baden, die berühmte Schauspielerin Christiane Hörbiger im leblos idyllischen Schlösselgässlein mit den üblichen Kunsthandwerksgeschäften. Leblos geht es weiter, anders leblos, die Straße ist dann verlebt, dem Verfall preisgegeben. Dem Preis preisgegeben, Makler preisen Top-Immobilien an.
Mit den großen Künstlerinnen-Töchtern schmückt sich die Stadt nicht so wie mit den alten, zugezogenen Promis. Im Parkpavillon einer Reha-Einrichtung prangen literarische Zitate, altvaterisches Zeug aus dem 19. Jahrhundert, kein Wort von Marlene Streeruwitz oder Gertraud Klemm. In der Auslage der Buchhandlung im Zentrum kein einziges Buch der aus Baden stammenden zeitgenössischen Autorinnen. Auch wenn von der Tochter eines Badener Bürgermeisters eine streng bürgerliche Wohlerzogenheit, eine marmorne Unnahbarkeit ausgeht, verfolgt Marlene Streeruwitz in ihrer Literatur die unversöhnliche Abrechnung mit dem Patriarchat. Logisch, dass frau hier in dieser Puppenstadt eine Allergie gegen liabe Madln entwickelt! Nicht einmal Hippopotamus, das letzte Buch von Gertraud Klemm, liegt im Schaufenster. Vielleicht ist Badner Bürger_innen ein Buch nicht zumutbar, in dem sich lustig gemacht wird über die Hoden eines Pferdestandbilds im Kurpark, auf dem ein pudelnackter Reiter sitzt?
Einem Sohn der Stadt, dem Übermalermaler Arnulf Rainer, wurde allerdings schon ein Museum gewidmet, das umgestylte Frauenbad, die Bilderbuchbahn rollt bis vor den Eingang. Sonst ist die auf Plakaten angekündigte Kultur von beklemmender Biederkeit, in einem Gässchen im Mini-Zentrum einer Mini-Stadt erschlägt das monstruös überdimensionale Theater, in dem Kultur zelebriert wird.
Im Schaufenster der Buchhandlung gibt es aber ein Buch über den jüdischen Friedhof in Baden. Ich kann es nicht kaufen, ist ja zu. Ich guggel, in Baden war die drittgrößte jüdische Gemeinde in Österreich, in der Wassergasse eine von den Nazis zerstörte orthodoxe Synagoge. Eine kleine Gemeinde habe sich wieder gebildet, die einzige in Niederösterreich, es gebe ein Gebetshaus in der Wassergasse. Ich suche, die wenigen Passant_innen, die paar Freaks mit Hunden kommen, so kommt es mir vor, aus einer Zeit, einer Welt in der man nichts mehr weiß von Synagogen. Dann finde ich zwei unscheinbare Tafeln. Einen Hinweis auf ein Gebetshaus finde ich nicht.
Diese Geschichte gibt es einfach nicht mehr. Die mit der man kaiserliches Flair verkauft und Wellness-Biedermeier umso mehr. Ein Beethovenschädel wächst aus dem Rasen. Die Bäume tragen Kronen. Das Helenental ist kaum aushaltbar lieblich, die Burg heißt Rauenstein. Es gibt noch eine. Der Fluss stinkt nicht, er glitzert, und wenn er stinkt, dann nach Schwefel, und das ist gut für uns. Unsere Gelenke. Das Thermalbad ist hundert Jahre alt und hat einen hundertjährigen Sandstrand. Die Autofahrer_innen sind die galantesten der Welt, sie halten an, bevor Fußgängerin Fuß auch nur Richtung Zebrastreifen bewegt. Wer die Badner Zeitung liest, läuft Gefahr von einer unheilbaren Sehnsucht nach so einem geschützten Gehege befallen zu werden, mit Rosen.
„Wer schimpft, der kauft“, weiß ein österreichisches Sprichwort. Ich kaufe mir ein Badner Häferl (dt.: Badner Tasse) mit echten badischen Kaffeebonbons und einer Bordüre aus Veilchen. Auf dem Badner Häferl steht „Badner Häferl“. Es schaut zwar exakt aus wie ein Wiener Häferl oder ein Salzburger Häferl.