Déjà-vu Bevor Etienne Schneider (LSAP) Anfang 2020 die Regierung verließ, weil er sein Leben zurückhaben wollte, veranstaltete er eine Pressekonferenz, auf der er die Öffentlichkeit noch einmal an seinen mutmaßlichen Erfolgen und Verdiensten als Wirtschaftsminister und Vizepremier teilhaben ließ. So weit ist Schneiders Nachfolger als Vizepremier vermutlich noch nicht, doch am Mittwoch zog Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) eine Bilanz zur Kurzarbeit, die er und die Regierung zu Beginn der Coronakrise für die Betriebe flexibilisiert hatten, und stellte drei Gesetzesentwürfe vor, die die Rechte der Arbeitnehmer/innen stärken sollen und noch in diesem Jahr vom Parlament verabschiedet werden könnten. Am 27. Dezember wird Dan Kersch 60 Jahre alt, am Montag hatte er im RTL Radio angekündigt, dass er 2023 nicht Spitzenkandidat seiner Partei werden und auch kein Ministeramt mehr anstreben wolle. Ob er vorzeitig als Regierungsmitglied zurücktreten werde, ließ er indes offen. Sollte es soweit kommen, wird die LSAP ihren zweiten Vizepremier innerhalb einer Legislaturperiode verlieren.
Entsprechende Gerüchte waren bereits im Vorfeld kursiert, deshalb kam Kerschs Verlautbarung nicht für alle überraschend. Der Zeitpunkt war es aber dann doch. Bis zu den Wahlen sind es immerhin noch zwei Jahre, mit seinem angekündigten Rückzug hat Kersch nun eine öffentliche Diskussion über die Spitzenkandidatur in der LSAP lanciert und vorerst viel Raum für Spekulationen geschaffen. Er selbst begründete diese Entscheidung am Mittwoch auf Land-Nachfrage damit, dass am 15. November (also in fast zwei Monaten) ein außerordentlicher Kongress seiner Partei ansteht, auf dem eine Statutenänderung angenommen werden soll, die nicht nur den Parteivorsitz, sondern auch die Spitzenkandidatur für ein Tandem öffnen soll. Obwohl es auf diesem Kongress wohl eher um Formalitäten als um Personalfragen gehen sollte, habe er mit seiner Ankündigung deutlich machen wollen, dass er für eine Doppelspitze nicht zur Verfügung stehen wird, meinte Kersch.
Die frühzeitige Ankündigung seines Rückzugs könnte aber auch darauf hindeuten, dass Kersch schon vor den Wahlen seinen Ministerposten räumen will, um den Weg für eine/n potentielle/n Nachfolger/in frei zu machen. Ein Ministeramt verleiht Politiker/innen deutlich mehr Öffentlichkeit und Sichtbarkeit als ein Abgeordneten- oder Gemeindemandat. Als möglicher Nachfolger wird bereits der in der LSAP nicht unumstrittene Fraktionspräsident Georges Engel gehandelt, doch weil seine Partei in Personalfragen „immer für eine Überraschung gut ist“, könnte auch wieder ein politischer Quereinsteiger wie Paulette Lenert in Frage kommen, verkündete ein gut gelaunter Kersch auf der Pressekonferenz am Mittwoch. Parteiintern fallen immer wieder Namen von Nachwuchspolitikern wie Ben Streff (26), Gemeinderat in Junglinster und Präsident des Wahlbezirks Osten, oder Max Leners (28), Anwalt und LSAP-Wohnungsbauexperte, der zwar noch kein Mandat bekleidet, aber Mitglied der Parteileitung und Sekretär der LSAP-nahen Fondation Robert Krieps ist. Kersch selbst brachte am Mittwoch die Krankenpflegerin und Vorsitzende des Nordbezirks, Tina Koch (43), ins Gespräch. Auch die Präsidentin der Femmes socialistes, Maxime Miltgen (28), gilt als Nachwuchspolitikerin mit Regierungspotential.
Protégée Mit seiner Ankündigung hat Dan Kersch aber auch den politischen Druck auf seine einstige Protégée Paulette Lenert erhöht. Die Gesundheitsministerin, die seit Mitte 2020 die Wahlumfragen anführt und seitdem auch in der LSAP als neuer Shootingstar gefeiert wird, hat bislang immer offen gelassen, ob sie 2023 tatsächlich erstmals bei Kammerwahlen kandidieren will. Die Quereinsteigerin, die den größten Teil ihrer beruflichen Laufbahn als Richterin und hohe Beamtin verbrachte und erst nach den Wahlen von 2013 der LSAP beitrat, war sich bislang nicht sicher, ob Politik wirklich das Richtige für sie sei (vgl. d’Land vom 05.02.2021). Eine entsprechende Land-Anfrage ließ sie in dieser Woche unbeantwortet.
Mit dem Hinweis auf sein fortgeschrittenes Alter und die beim Referendum von 2015 mit großer Mehrheit abgelehnte Forderung der LSAP, die Mandatsdauer von Regierungsmitgliedern auf zehn Jahre zu begrenzen, erhöhte Kersch aber auch den Druck auf Außenminister Jean Asselborn, der immerhin fast 13 älter ist als er und seit 17 Jahren in der Regierung. Mit der überraschenden Ankündigung von Sozialminister Romain Schneider am Mittwoch, 2023 nicht mehr bei den Wahlen antreten zu wollen, dürfte der Druck auf Asselborn noch größer geworden sein. Gerüchte, dass Schneider, der erst im kommenden April 60 wird, noch vor den Wahlen zurücktreten wolle, um sein Amt dem fast gleichaltrigen Abgeordneten und Diekircher Bürgermeister Claude Haagen zu überlassen, kursieren bereits seit Monaten. Parteipräsident Yves Cruchten dementiert zwar auf Nachfrage, dass nun weitere Regierungswechsel in LSAP-Ressorts anstehen, doch in der Partei regt sich Unmut. Minister, die ihr Amt zu Ende führen, sollten auch wieder bei den Wahlen kandidieren, heißt es aus der LSAP. Wer nicht wieder antreten will, soll einem potentiellen Nachfolger die Chance bieten, sich frühzeitig zu positionieren. Diese Ansicht vertritt auch der Außenminister, der sich ziemlich unbeeindruckt gibt: Er sei zurzeit mit Afghanistan beschäftigt und habe die Diskussionen um Kersch gar nicht so genau verfolgt, erklärt Asselborn dem Land. Er sei jedenfalls von den Bürger/innen gewählt worden und werde sein Mandat erfüllen; auch 2023 werde er wieder kandidieren, betont Jean Asselborn, der jahrelang sämtliche Umfragen anführte und erst im Juni 2020 von Lenert auf den zweiten Platz verdrängt wurde.
Bibel Was bezweckte Kersch also mit seiner Ankündigung? Wieso hat er nicht bis nächstes Jahr gewartet, um die Spitzenkandidatur abzulehnen? Parteiinternen Quellen zufolge hatte Kersch durchaus Ambitionen, die LSAP 2023 in den Wahlkampf zu führen. Bis vor einigen Wochen habe er noch in verschiedenen Parteigremien um Unterstützung für seine Kandidatur geworben. Allerdings sei er überall auf Ablehnung gestoßen. Ähnlich wie Frank Engel vor seinem Rücktritt als CSV-Präsident trat Kersch in den vergangenen Monaten als Einzelgänger auf und war für seine Partei „unkontrollierbar“ geworden. Seine Forderung nach einer Corona-Steuer war nicht mit der Partei abgesprochen und wurde weder von Paulette Lenert noch von anderen Parteimitgliedern unterstützt. Sogar die „rote Eminenz“ Alex Bodry hielt sie für nicht umsetzbar. Zwar wurde in den LSAP-Gremien über eine solche Steuer diskutiert, doch sie war noch nicht spruchreif, als Kersch damit an die Öffentlichkeit ging. Statt einer Debatte über eine diffuse Corona-Steuer hätten manche Sozialisten sich eine Diskussion über eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen oder großer Vermögen gewünscht. Auch die Koalitionspartner DP und Grüne brachte Kersch mit seinem unausgereiften Vorstoß in Erklärungsnot. Vieles deutet darauf hin, dass die Parteiführung den Vizepremier in den vergangenen Wochen wieder zur Koalitionsräson bringen wollte. Dies würde auch erklären, weshalb er am Mittwoch auf eine harmlose Frage nach einer im Koalitionsprogramm vorgesehenen Reform ironisch entgegnete, das Regierungsabkommen sei für ihn „wie eine Bibel“.
Der frühere Kommunist Kersch, der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der LSAP anschloss und über die Kommunalpolitik in die Kammer kam, um 2013 Minister in einer Koalition mit DP und Grünen zu werden, hat trotz seiner Kompromissfähigkeit stets polarisiert. Dementsprechend sorgt auch seine Absage an eine Spitzenkandidatur in der LSAP für geteilte Meinungen. Im eher „sozialliberalen“ Lager, das sich inhaltlich an einem 2014 von der Fondation Robert Krieps veröffentlichten Positionspapier inspiriert, wird seine Entscheidung begrüßt; sie sei gut für die Partei, unnötige Führungsdiskussionen oder gar ein öffentlich ausgetragener Machtkampf könnten auf diese Weise vermieden werden. Kerschs Bedeutung innerhalb der Partei sei in der Öffentlichkeit stets überschätzt worden, es sei keine große Veränderung, wenn er durch einen Protagonisten aus der zweiten Reihe ersetzt werde, meinen parteiinterne Kritiker. In den traditionell eher „linken“ und gewerkschaftsnahen Kreisen stellt man sich hingegen die Frage, was seine Entscheidung für die zukünftige politische Ausrichtung der LSAP bedeuten wird. Obwohl Kersch durchaus pragmatisch handeln und kompromissfähig sein kann, vertrat er doch immer auch, im Rahmen seiner durch die Koalitionsräson beschränkten Möglichkeiten, gewerkschaftsnahe Positionen. Nach seinem Rückzug drohe die LSAP in die Beliebigkeit der Sozialliberalität abzudriften, wo sich zurzeit alle größeren Parteien im Kampf um Wählerstimmen tummeln, warnen etwa Gewerkschafter. Weil viele Geringverdiener aber inzwischen in Luxemburg kein Wahlrecht mehr haben und es der Dreierkoalition 2015 nicht gelungen war, dies per Referendum zu ändern, ist in der Mittelschicht das Wählerpotential am größten, weshalb insbesondere jüngere LSAP-Mitglieder sich im Gespräch mit dem Land dafür aussprechen, die Partei programmatisch stärker für klein- und mittelständische Unternehmer zu öffnen, die „im Sozialismus eine politische Heimat suchen“. Dass Kersch ausgerechnet diese Wählerschaft verschreckt hatte, als er im April 2020 ihre Forderungen nach Corona-Hilfen für Selbstständige ablehnte und sie auf Facebook als grinsende Ferrari-Fahrer bezeichnete, wird ihm in Teilen der LSAP noch heute nachgetragen.
Harmonie Während die CSV sich in den letzten Monaten in aller Öffentlichkeit selbst zerfleischte, war es in der LSAP verdächtig still geworden. Die guten Umfragewerte von Paulette Lenert und zuletzt die Aussicht auf einen sozialdemokratischen Wahlerfolg in Deutschland hatten nach den schlechten Ergebnissen der vergangenen Jahre wieder für Aufbruchstimmung gesorgt. Parteimitglieder berichteten in den vergangenen Monaten von einer internen Harmonie, wie es sie lange nicht mehr gegeben habe. Die Ereignisse dieser Woche haben aber gezeigt, dass es intern weit weniger harmonisch zuging, als es nach außen hin den Anschein hatte. Dass die alten Flügelkämpfe in der Partei nun wieder aufbrechen, ist allerdings unwahrscheinlich. Die LSAP hat sich den vergangenen Jahren immer weiter von den Gewerkschaften entfernt, in der Parteispitze haben außer Dan Kersch und Romain Schneider nur Generalsekretär Tom Jungen und Tina Koch noch eine Verbindung zum OGBL (Taina Bofferding hat zwar auch beim OGBL gearbeitet, gilt aber nicht als gewerkschaftsnah). Von „parteilinken“ Kritikern wie Nico Wennmacher oder Nando Pasqualoni und ihren als altbacken und wenig fortschrittlich empfundenen Forderungen nach Kaufkraft und Gehältergerechtigkeit oder Index- und Rentenerhalt lässt sich die neue „sozialliberale“ Generation von Sozialdemokrat/innen kaum noch beeindrucken. Ihnen geht es eher um Themen wie Wohnungsnot, Umwelt- und Klimaschutz, Bildung und Menschenrechte.
Sich lediglich auf die guten Umfragewerte von Paulette Lenert und Jean Asselborn zu verlassen, macht für die LSAP wenig Sinn. Schon vor den Wahlen 2018 waren drei der fünf beliebtesten Politiker/innen Sozialisten (Asselborn, Di Bartolomeo, R. Schneider), und die LSAP fiel doch von 13 auf zehn Mandate. Asselborn ist wegen seiner außenpolitischen Kompetenzen und seiner direkten Art zwar beliebt, doch auf der nationalpolitischen Bühne spielt er kaum eine Rolle. Paulette Lenert hat ihren Zenit in den Umfragen bereits überschritten. Sie und Premierminister Xavier Bettel (DP) werden mit ihrem Solidaritätsdiskurs, den sie als Krisenmanager/innen über Monate hinweg konstruiert und gepflegt haben, bald aus der nationalpolitischen Aktualität verschwunden sein. Ein politisches Profil jenseits von Corona konnte Lenert sich bislang nicht aneignen. In gesundheitspolitischen Fragen – etwa am Gesondheetsdësch – vertritt sie (wie ihr Vorgänger Etienne Schneider) eher wirtschaftsliberale Positionen, was erfahrene LSAP-Parlamentarier/innen bisweilen dazu veranlasst, die Oppositionspartei déi Lénk um Unterstützung zu bitten. Nicht nur Parteilinke aus der LSAP befürchten, dass sie den Bestrebungen der Ärztevereinigung AMMD hin zu einer Privatisierung des Gesundheitssystems nur wenig entgegensetzen werde. Als Kersch im März in einem Interview mit dem Wort erklärte, man müsse „ein System verhindern, in dem Leute mit mehr finanziellen Mitteln einen besseren Gesundheitsschutz erhalten“ und der „Einfallsreichtum, das aktuelle System zu untergraben“, sei „riesig“, war das auch ein Wink mit dem Zaunpfahl in die Richtung der sozialistischen Gesundheitsministerin. Dass ausgerechnet der für Sozialversicherung zuständige und in Umfragen ebenfalls überaus beliebte Minister Romain Schneider nur zwei Tage nach Lenerts Ziehvater Kersch auch seinen Rückzug angekündigt hat, wirft kein gutes Licht auf die inoffiziell designierte LSAP-Spitzenkandidatin.
Profil Will Lenert die LSAP 2023 in die Wahlen führen, muss sie aber nicht nur in der Gesundheitspolitik, sondern auch in anderen zentralen Feldern wie Steuergerechtigkeit, Wohnungsnot und Klimawandel ein eigenes Profil entwickeln. Bislang hatte sie wegen Corona dazu noch nicht die Gelegenheit, doch ihre mangelnde politische Erfahrung und ihre Ferne zu den traditionellen sozialistischen Milieus stimmen manche Mitglieder skeptisch.
Die Parteileitung wurde von den Ereignissen in dieser Woche offensichtlich überrascht. Offiziell beteuert Cruchten zwar, dass beide Rücktrittsverlautbarungen mit ihm abgesprochen und längst bekannt gewesen seien, doch der Kontrollverlust der Parteispitze macht sich schon alleine dadurch bemerkbar, dass dem Präsidenten nichts besseres einfällt, als im Gespräch mit dem Land die Medien dafür verantwortlich zu machen, dass schon jetzt öffentlich über die Spitzenkandidatur bei der LSAP spekuliert wird. Dabei war es kein Geringerer als der Vizepremier, der diese Debatte anstieß. Am kommenden Dienstag will die Parteileitung darüber beraten, wie es nun weitergehen soll. Dabei soll es auch um die Frage gehen, ob es nicht doch opportun wäre, wenn Minister, die schon zwei Jahre vor den Wahlen ihre eigene Stellung, die ihrer Partei und die der Regierung insgesamt durch Rücktrittsbekundungen geschwächt haben, ihre jeweiligen Mandate frühzeitig und freiwillig abgeben.