Deutschland

Zum Schaden der Demokratie

d'Lëtzebuerger Land vom 14.02.2020

Es waren deutliche Worte, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Anfang dieser Woche zu den Ereignissen der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen fand. Bei einem Abendessen zu Ehren seines Vorgängers Joachim Gauck verwies Steinmeier auf dessen Vermittlungsversuche zur Bildung einer stabilen Regierung in Thüringen. Gauck habe nicht wissen können, „dass die Wahl des Ministerpräsidenten missbraucht werden könnte, um die freiheitliche Demokratie und ihre Vertreter der Lächerlichkeit preiszugeben“. Gauck hatte in den Wochen zuvor zwischen der CDU und der Linkspartei vermittelt, um eben jenen Winkelzug der AfD zu vermeiden, wie er dann bei der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zu Tage trat. Die deutsche Demokratie hat an jenem Mittwoch in Erfurt großen Schaden genommen, doch dies geschah nicht nur durch die Radikalität, mit der die AfD das politische System Deutschlands von innen aushöhlen möchte, sondern auch durch die Naivität und vor allen Dingen auch Blödheit von Christdemokraten und Freien Liberalen zunächst im Thüringer Landtag und dann auch in Berlin, die sich allesamt selbst der Lächerlichkeit preisgaben – ohne dass es einem weiteren zutun der AfD bedurfte.

Der Thüringer Landtag hat 90 Sitze. Fünf davon fallen auf die FDP, eben so viele auf die Grünen. Die CDU hat 21 Mandate, die SPD acht. Stärkste Fraktion ist die Linke mit 29 Sitzen, gefolgt von der AfD mit 22 Vertretern. Zählt man die Mandate der sogenannten politischen Mitte von CDU, FDP, Grünen und SPD in Erfurt zusammen, so kommt diese auf 39 von 90 Sitzen. Weit entfernt von einer Regierungsmehrheit. Dies ist die Ausgangslage im Erfurter Landtag. Es wurde bereits im Vorfeld der Ministerpräsidentenwahl an jenem Mittwoch im Februar gemutmaßt, dass Kemmerich, der bis dato völlig unbekannte Fraktionsvorsitzende der FDP im Thüringer Landtag, im dritten Wahlgang gegen die Kandidaten Bodo Ramelow (Die Linke) und Christoph Kindervater (auf Vorschlag der AfD) antreten würde, wenn eine einfache Mehrheit ausreicht, um Ministerpräsident zu werden. Es war dann ein ausgeklügelter Schachzug der AfD, den eigenen Kandidaten fallenzulassen und Kemmerich zum Amt zu verhelfen. Dieser nahm verdutzt das Amt an.

Es dürfte sich mittlerweile in der politischen Szene Deutschlands herumgesprochen haben, dass die AfD vor keinem Manöver zurückschreckt, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung bloßzustellen. In den Stunden nach der Wahl tauchte ein Schreiben des Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke auf, der dem rechtsextremistischen sogenannten Flügel der Partei vorsteht, das vermutlich belegt, dass die Wahl Kemmerichs durch AfD und CDU im Vorfeld abgesprochen war. Dieses Schreiben führte die Erklärung von CDU und FDP, dass man sich seine Wähler nicht aussuchen könne, völlig ins Absurde.

Die Antrittsrede von Kemmerich zeugte dann von größtmöglicher politischer Naivität und ebensolchem persönlichem Machtstreben. Denn darin schloss der neue Ministerpräsident eine Zusammenarbeit mit der Linken kategorisch aus und sprach von Brandmauern, die er gegen die AfD bestehe. Dass diese mit der Ministerpräsidentenwahl bereits abgerissen und mit der ersten Parlamentsentscheidung unter seiner Ägide völlig demoliert war, übersah Kemmerich. Er rief stattdessen CDU, Grüne und SPD auf, in die neue Regierung einzutreten, die mit 39 von 90 Sitzen regieren sollte. Somit wäre sie bei jeder Abstimmung auf das Nicken entweder der Linken oder der AfD angewiesen und in ihrem Bestand von deren Wohlwollen abhängig gewesen. Diese Rolle hätte Höcke genüsslich ausgelebt.

Doch der eigentliche Schaden für die Demokratie begann erst: Zunächst gratulierte auf Bundesebene FDP-Vize Wolfgang Kubicki seinem Parteikollegen überschwänglich zur Wahl, freudentaumelnd, dass die FDP endlich wieder einen Ministerpräsidenten stellte. Den Preis, den die FDP gezahlt hatte, um an die Macht zu kommen, übersah er völlig. Dann lavierte FDP-Chef Christian Lindner sich durch Floskeln politischer Schachtelsätze, um sich nicht genau festlegen zu müssen und Verantwortung zu übernehmen, um stattdessen weiterhin alle Machtoptionen zu haben. Kemmerich selbst hielt zunächst an seinem Amt fest, kündigte dann den Rücktritt an, um diesen noch ein wenig hinauszuzögern. Die CDU versuchte auf Bundesebene den Schaden zu begrenzen, doch die örtlichen ParteiGranden ließen sich von Berlin nichts mehr sagen. Die Christdemokraten in Thüringen wollten nicht einmal einsehen, dass sie mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt hatten. Sie hatten wohl gehofft, dass Thüringen zu unbedeutend sei, als dass die Wahl große Wellen schlagen würde, um dann auf die normative Kraft des Faktischen setzen zu können. Sie folgten der Macht und wiederholten ihr Mantra, dass es ihr gelungen sei, den Fortbestand der rot-rot-grünen Regierung zu verhindern.

Wahlen im pluralistisch-politischen Diskurs ist jedoch immanent, dass nur für – sei es eine Partei oder eine Person – stimmen kann, nicht jedoch dagegen. Man stimmt nicht gegen eine Partei, sondern entscheidet sich für eine andere. Jede Umdeutung dieser Prämisse ist ein Schaden für die Demokratie. Schaffen es die politischen Akteure nicht, aus dem Auftrag, den ihnen die Wählenden gaben, eine Regierung zu bilden, dann kann der Auftrag durchaus zurückgegeben werden an den Wähler als Souverän. Dies ist kein Todesstoß für die Demokratie. Die Weigerung der Thüringer Christdemokraten, den Weg zu Neuwahlen freizumachen, erwächst zwar aus der machtpolitischen Denke, dass die CDU dann eine herbe Niederlage einstecken werden wird. Der Erfurter CDU-Vorsitzende Mike Mohring nahm zudem billigend in Kauf, dass er seine Partei in eine existenzielle Krise stürzen würde, die fünf Tage später die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zum Amtsverzicht bewegen würde. Auch Mohring lavierte sich durch die Affäre und gönnt sich nun erst einmal einen Urlaub. Egal, an welchem Punkt Thüringen und der Rest der Republik gerade stehen.

Martin Theobald
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