Es war eine Liebeserklärung. „Ich stehe wegen meines Lebensweges vor euch“, sagte Saskia Esken den 600 Delegierten auf dem SPD-Parteitag in Berlin vergangenes Wochenende. „Wenn ich es von der Paketbotin zur Softwareentwicklerin geschafft habe, und danach in die Politik, dann nur, weil es die SPD gibt. Denn die SPD hat dafür gesorgt, dass das Versprechen auf Aufstieg auch möglich war.“ Arbeiterkind Esken steht nun an die Spitze der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) – zusammen mit Norbert Walter-Borjans, auch Nowabo genannt. Auch Borjans, dessen Vater Schreiner war, stammt aus bescheidenen Verhältnissen.
Wahrscheinlich könnte niemand den Umschwung, den die SPD auf ihrem Parteitag hingelegt hat, so verkörpern wie die neue Doppelspitze. Nach zwei Jahrzehnte währenden neoliberal durchwirktem Kurs will die einstige Arbeiterpartei zu ihren Traditionen zurück. Dafür haben die Delegierten eine Reihe Beschlüsse gefasst: Der Mindestlohn soll auf zwölf Euro steigen, die Vermögenssteuer soll wieder eingeführt werden und in zehn Jahren soll der Staat dafür sorgen, dass mindestens 1,5 Millionen neue und bezahlbare Sozialwohnungen entstehen. Gebührenfreie Bildung, Ganztagsschulen, Geld für Bildung und Gesundheit, statt Exporte für die Waffenindustrie. Die Liste ist lang.
Doch das Herzstück der geläuterten deutschen Sozialdemokratie ist das Sozialstaats-Konzept, welches Saskia Esken unter Beifall verkündete: „Wir waren die Partei, die Hartz IV eingeführt hat. Wir sind die Partei, die Hartz IV überwindet und durch ein besseres System ersetzt.“ „Hartz IV“ ist die von Anfang an verhasste Arbeitsmarktreform des EX-SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Seit Jahren grämten sich Teile der SPD-Basis, mit dieser Reform 2002 den einstigen Sozialstaat zerschlagen und den Niedriglohnsektor und das Präkariat überhaupt erst geschaffen zu haben. Als Esken in den Saal rief, „Es ist Zeit, dass wir umkehren. Ich will mein ganzes Herzblut darin legen, mit euch gemeinsam den Niedriglohnsektor auszutrocknen“, sprach sie den meisten Delegierten aus dem Herzen.
Einen weiteren Heimsieg landete Eskens Ko-Vorsitzender Nowabo. Ohne Namen zu nennen, kritisierte er den Fetischkult um den ausgeglichenen Haushalt. Jeder wusste sofort, wer gemeint war: Parteifreund und Gegenkandidat beim Rennen um den Parteivorsitz, Finanzminister Olaf Scholz. „Wenn die schwarze Null einer besseren Zukunft unserer Kinder entgegensteht, dann ist sie falsch! Dann muss sie weg!“, rief Walter-Borjans bei seiner Antrittsrede. Dröhnender Beifall.
Nowabo setzte noch eins drauf: „Das gilt auch für die Schuldenbremse.“ Sie ist seit 2009 in der Verfassung des Landes verankert. Kritiker machen sie verantwortlich für die mürbe Infrastruktur im Land. Kommunalpolitiker sind nicht gut auf sie zu sprechen, denn vielen Gemeinden fehlt das Geld um Straßen, Schulen und Infrastruktur in Schuss zu halten und sie leiden unter chronischem Finanznotstand. Walter-Borjans fasste den neuen Kurs der SPD so zusammen: „Wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts ein Linksschwenk der Partei ist, dann bitte sehr. Dann machen wir gemeinsam einen ordentlichen Linksschwenk!“
Tatsächlich bog die schwächelnde und in der Wählergunst abgeschlagene SPD in den letzten Wochen überraschend scharf links ab. Noch kurz vor dem Parteikongress galt es unter Hauptstadtjournalisten als gesetzt, dass Finanzminister Scholz mit seinem halsstarrigen Kurs der schwarzen Null selbstverständlich vom Mitgliedervotum zum Parteivorsitzenden gekürt werden würde. Doch die hatten ihre Rechnung ohne die Basis gemacht. In einer Stichwahl wählten die Mitglieder schließlich zur großen Überraschung der Republik zwei eher unbekannte Politiker – und schickten damit viele aus Scholz‘ Team in den Ruhestand. Scholz‘ Politik wurde kurzerhand über Bord geworfen. Die innerparteiliche Demokratie erwies sich als lebendig.
Da die über 150 Jahre alte Partei droht, in der Linkskurve bei überhöhter Geschwindigkeit ins Schlingern zu geraten und die alte Parteielite und deren Anhänger unterwegs zu verlieren, traten die Links-Reformer gleich selbst vorsorglich auf die Bremse. Sie gingen entscheidende Kompromisse ein und nahmen dafür heftige Kritik in der Öffentlichkeit in Kauf.
Nach aufgeregten öffentlichen sowie innerparteilichen Spekulationen, Esken und Nowabo wollten die ungeliebte „GroKo“, die große Koalition mit der CDU und CSU, sofort verlassen, glätteten beide die Wogen. Sie seien zwar über die Zukunft dieser Zusammenarbeit sehr skeptisch, würden dennoch versuchen, ihre neuen Inhalte in der Koalition durchzusetzen, betonten sie und unterstrichen zugleich, die Koalition werde enden, wenn Merkels Konservative nicht entgegenkämen.
Noch funkt es „Njet“ aus dem konservativen Lager. Ändert sich das trotzige Nein, hätte die SPD gute Chancen sich bis zu den regulären Wahlen in zwei Jahren in der Regierung zu profilieren und sich insgesamt etwas zu regenerieren. Zerbricht die „GroKo“, stehen vorgezogene Wahlen an. Ob die SPD, die sich zur Zeit in den Umfragen zwischen zehn und 15 Prozent bewegt, sich dafür schnell genug runderneuern kann, bleibt fraglich. Ganz aussichtslos ist es aber nicht. Die neue Linie spricht Menschen im Land an. Vor allem bei jungen Wählenden und enttäuschten Nichtwählenden hätte die SPD mit der neuen Linie wieder bessere Karten.
Auch wenn die gebeutelte SPD nicht schnell aus dem Umfragetief herauskommt: Sie hat heute bessere Chancen, mittelfristig wieder Wahlerfolge einzufahren als noch vor zwei Wochen. Der letzte Parteitag leitete einen Generationenwechsel ein. Mit Kevin Kühnert, dem charismatischen Chef der Jungsozialisten, zog ein politisches Talent mit linker Gesinnung in den Parteivorstand ein. Kühnert, vom Magazin Der Spiegel zum einflussreichsten Jungpolitiker seit Jahren gekürt, trieb er mit intelligenter Rhetorik die bis dato Ton angebende Parteielite vor sich her. Es sei seine öffentliche Wahlempfehlung gewesen, die Esken und Nowabo zum Spitzenduo werden ließ, heißt es.
Das linke Überholmanöver ruft nun Gegner auf den Plan. Die hatten bislang genüsslich zugeschaut, wie sich die Genossen mit Intrigen selbst demontierten. Trotzdem sind sie links abgebogen. Nun müssen sie auf holperiger Strecke den Kurs halten.