Am Morzinplatz lag das Hauptquartier der Gestapo, in dem unzählige Menschen gequält und verhört wurden. Ein Steinwurf entfernt die älteste Kirche Wiens, über dem römischen Militärlager Vindobona errichtet und halb unter Efeu verschwunden. Der seitlich der Kirche entlangführende Treppe nach oben folgend, gelangt man zur Seitenstettengasse, wo der Haupttempel der Wiener jüdischen Gemeinde liegt. Seit 1981 wird der Bau streng bewacht: Damals verübte ein palästinensisches Terrorkommando einen Angriff auf den Haupttempel der Wiener jüdischen Gemeinde, warf Handgranaten in die Menge und tötete zwei Menschen.
Weniger spirituell geht es in den umliegenden Gassen zu gewöhnlichen Zeiten abends zu: Im Wiener „Bermudaviertel“ tobt das Nachtleben, jeder Wien-Tourist und jede Neo-Wienerin landet früher oder später in der Vergnügungsmeile unweit des Donaukanals. Auch eine Reihe exklusiver Lokale finden sich hier nahe dem Schwedenplatz, zudem ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Historisch, spirituell, emotional und alltagspraktisch ein hoch aufgeladener Ort – und voller Videokameras.
Hier schlug der Täter zu. Neun Minuten dauerte der Schrecken am Montagabend, als bei ungewöhnlich lauen Temperaturen zahlreiche Menschen unterwegs waren, um noch einen Abend im Freien zu genießen, bevor Österreich erneut im Corona-Lockdown verharren sollte. Neun Minuten. Unzählige Schüsse aus einem Sturmgewehr. Ein Opfer sofort tot, 26 verletzt, Chaos und Schrecken in den Straßen und Lokalen. Die Spezialeinheiten sind rasch vor Ort, vor der Ruprechtskirche wird der Attentäter erschossen: Ein 20-Jähriger, bewaffnet mit einer Kalaschnikow, einer Pistole und einer Machete. Um den Bauch die Attrappe eines Sprengstoffgurtes, aus Red Bull-Dosen gebastelt, wie sich später herausstellt.
Ob noch weitere Terroristen unterwegs sind, bleibt lange unklar. Stunden verharren die Menschen in den Lokalen, Privatwohnungen, Hotels und Kultureinrichtungen, der Musiker Martin Grubinger spielt Zugabe um Zugabe, Burgtheater-Direktor Martin Kusej führt ein Publikumsgespräch. Im Lauf der Nacht werden Menschen in kleinen Gruppen unter Polizeischutz aus der Innenstadt geleitet. Die Stadt und das Land sind wie gelähmt: Terror, das ist Paris, Berlin, London – aber das gemütliche, beschauliche Wien? Das schien undenkbar.
Doch die Behörden kannten den Attentäter schon länger. Der Sohn einer aus Nordmazedonien stammenden Familie, der im bürgerlichen Mödling aufwuchs, dort die HTL (Fachabitur) abschloss, war irgendwann, mit 16 Jahren, in die Islamistenszene abgerutscht. Er besuchte eine bekannte Moschee in Wien, radikalisierte sich, wollte für das Kalifat des IS kämpfen. Auf seinem Weg nach Syrien wurde er in der Türkei gestoppt und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung 2019 in Österreich verurteilt. Zwei Drittel seiner Haftstraße saß er ab, im Dezember 2019 wurde er vorzeitig entlassen und in ein Deradikalisierungsprogramm aufgenommen.
Es gelang ihm offensichtlich ein perfides Täuschungsmanöver. Sein damaliger Strafverteidiger gab am Tag nach dem Anschlag zu Protokoll, er hätte dem Jungen aus „ganz normalem Haus“ dies nie zugetraut. Er habe wohl das Pech gehabt, zum falschen Zeitpunkt an falsche Freunde geraten zu sein: „Wäre er statt in die Moschee zum Boxen gegangen, wäre er Boxer geworden.“
Stattdessen fuhr er im Sommer in die Slowakei, um Waffen zu kaufen, scheiterte aber an einer fehlenden Berechtigung. Die slowakischen Behörden informierten die österreichische Polizei. Im Innenministerium in Wien wurde die Warnung nicht wahrgenommen, wie Minister Karl Nehammer am Mittwoch einräumte. Woher der Attentäter seine Waffen und die Munition bezog, wie er zum Tatort kam und ob er Helfer hatte, warum seine weitere Radikalisierung unerkannt blieb – Verfassungsschutz und Innenministerium haben noch viele Fragen zu klären.
Indessen feiert das traumatisierte Wien seine Helden. Die Straßenbahnfahrer, die außerhalb der Stationen hielten, um Menschen aus der Gefahrenzone zu bringen. Wirtsleute und Anlieger, die Fremde in ihren Häusern schützten. Taxifahrer, die unentgeltlich Fahrtdienste übernahmen. Und drei junge Männer mit besonderen Geschichten: Zwei türkischstämmige Kickboxer retteten eine alte Frau und einen verletzten Polizisten unter Gefährdung ihres eigenen Lebens. Am gleichen Abend wird noch bekannt, dass von den beiden eine Aufnahme existiert, auf der sie den verbotenen Gruß der radikalen „Grauen Wölfe“ zeigen.
Gefeiert und mittlerweile von der Polizei ausgezeichnet wurde auch ein junger Palästinenser, der einen schwerverletzten Polizisten Erste Hilfe geleistet hatte. Er stammt aus einer anerkannten Flüchtlingsfamilie, die im Vorjahr ein Haus in einem niederösterreichischen Dorf kaufen wollte und von der Gemeinde vergrault wurde: Muslime wollte man dort nicht haben.
In der Brutalität des Anschlags und in den Schattierungen seiner Randgeschichten wird klar, wie sehr die Strategie der militanten Islamisten aufgeht, die der Nahost-Korrespondent Karim El-Gwahary nach einer Publikation im OS-Online-Magazin Dabiq 2015 beschreibt: „Die Idee war relativ einfach. Mit jedem islamistischen Anschlag in Europa und dem Westen wächst dort die antiislamische Stimmung. Die Folge wäre eine Polarisierung und wie es damals hieß, die „Eliminierung der grauen Zone“ – damit ist die Koexistenz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gemeint. Mit der Ausgrenzung der Muslime im Westen könnten diese so leichter in die Arme der militanten Islamisten und ihrer Ideologie getrieben werden und wären leicht zu rekrutieren.“