Türkei und EU-Beitrittsverhandlungen

Der Traum ist aus

d'Lëtzebuerger Land vom 06.07.2018

Es ist ein Hauen und Stechen. Tausende Bürokraten bewerben sich für neue Stellen, sie rufen einflussreiche Bekannte an, bringen sich in Stellung. Alle schleimen sich bei Erdogan und seinen Beratern ein, um einen Posten im Staatspräsidentenamt zu bekommen. Denn dort wird ab jetzt die Macht in der Türkei konzentriert sein.

Das türkische Regime richtet sich gerade für die nächsten fünf Jahre ein. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat dabei den Hut auf. Er entscheidet, wer seine Vizepräsidenten werden, wer Ministerposten erhält und wer in die Bedeutungslosigkeit verschwindet. Er muss lediglich aufpassen, dass seine faschistischen Verbündeten nicht ganz leer ausgehen.

Das Parlament hat dagegen gar nichts mehr zu sagen. Die Abgeordneten, zumindest die der Partei Erdogans, schielen darauf, ob sie eventuell einen Posten kriegen können und deshalb auf ihr Parlamentssitz verzichten sollten. Sonst ist die Volksvertretung dazu degradiert, die Gesetze durchzuwinken, die Erdogan für wichtig hält. Viele werden es wahrscheinlich nicht, denn er kann auch mit Verordnungen regieren. Niemand kann nach früheren Kriterien voraussagen, wer welchen Posten bekommen könne, berichten Beobachter. Ob Erfahrung oder Ausbildung bei der Auswahl noch eine Rolle spielen, ist nicht bekannt. Das Schicksal ehemaliger Minister ist genauso ein Rätsel, wie das der ehemaligen Präsidentenberatern. Während in den Kulissen Chaos herrscht, wird auf der politischen Bühne diskutiert, ob auch die Lokalwahlen vorgezogen werden sollten. Erdogans Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung möchte den Momentum der Staatspräsidentenwahl ausnutzen, um den eigenen Erfolg zu maximieren.

Die Opposition dagegen gibt ein erbärmliches Bild ab. Während die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei in einem erbitterten Machtkampf sich selbst zerlegt, biedert sich, laut Medienberichten, die konservative Opposition um die ehemalige Innenministerin Meral Aksener, bei Erdogan an, um irgendwie an der Macht beteiligt zu werden.

Inmitten dieses Gerangels werden aber außenpolitische Grundsatzentscheidungen gefällt – leise, ohne viel Aufsehen zu erregen. Die wichtigste Änderung bisher: Das EU-Ministerium wird geschlossen. In der Zukunft werden die EU-Angelegenheiten die Aufgabe eines Ressorts unter anderen innerhalb des Außenministeriums. Nach Außen hin geben sich Erdogan und seine Entourage weiterhin interessiert an einer Vollmitgliedschaft in der EU. Doch die Abwicklung des Ministeriums, der vor Jahren gegründet wurde, lediglich um zu demonstrieren, welch großen Wert der Betritt in die EU hatte, zeigt deutlich, dass die türkische Politik ab jetzt in Sachen Europa den Rückwärtsgang einlegt.

Das Regime in der Türkei ist nur noch an finanziellen und wirtschaftlichen Aspekten der Beziehungen zur EU interessiert. Aber bisher ziehen die Europäer nicht mit. Das machten die Ergebnisse des EU-Gipfels am 28. und29. Juni 2018 deutlich. Dort vereinbarten zwar die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten die zweite Tranche der mit dem Flüchtlingsabkommen versprochenen Finanzhilfe freizugeben. Die Freigabe der nächsten drei Millionen Euro wurde in Ankara mit Genugtuung registriert.

Doch ein anderer EU-Beschluss zwei Tage zuvor kränkte die türkischen Außenpolitiker. Demnach lehnten die EU-Länder eine Ausweitung der Zollunion mit der Türkei ab. Ankara fordert seit längerer Zeit, dass auch Agrar- und Dienstleistungsprodukte zollfrei in die EU exportiert werden können. Außerdem ärgert sich Ankara darüber, dass die von der EU getroffenen Zollregelungen gegenüber Drittstaaten automatisch auch für die Türkei bindend ist, obwohl das Land die Entscheidungen nicht mitgestalten darf.

Kurz darauf kamen weitere Erklärungen aus Brüssel, die alle als einen Schlag ins Gesicht des Regimes in der Türkei angesehen werden können. So wurde eine Vorausregistrierung für die Einreise in die EU für türkische Grün- und Graupassträger beschlossen, die bisher ohne Visum einreisen durften. Außerdem solle mit Ankara erst dann über eine generelle Visafreiheit verhandelt werden, wenn die Türkei Zypern als gleichberechtigter Partner offiziell anerkannt. Weiterhin kündigte die Türkei-Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Kati Piri, an, das Europaparlament werde demnächst fordern, die Beitrittsgespräche offiziell einzufrieren.

Als Grund für alle diese Maßnahmen geben EU-Politiker stets an, die Türkei hätte sich in punkto Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit zu weit von der EU entfernt. Ankara reagierte erbost und warf den Europäern vor, „mit anti-türkischer Mentalität zu handeln. Europa sei „ungerecht, voreingenommen und verlogen“, meinte beispielsweise der EU-Minister Ömer Celik.

Die EU beweist damit, dass sie Ankara wohl wehzutun vermag. Doch wie weit kann Europa gehen? Nach dem vergangenen Wahlergebnis nicht sehr weit. Denn die Türkei bleibt ein Nachbar der EU. Sie ist in der Flüchtlingsfrage sowie in der Nato Partner der Union. Und klar ist es, dass Erdogan die nächsten fünf Jahre ziemlich fest am Sattel sitzen wird, so lange keine Wirtschaftskrise ihn unerwartet wegfegt. Vermutlich werden deshalb im gegenseitigen Einverständnis die Beziehungen auf ein niedriges Niveau stabilisiert. Auf einem Niveau, wo beide Seiten ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen gewahrt sehen.

Cem Sey
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