Jeder hat es schon erlebt: Man sagt, „schlimmer kann es nicht mehr werden“, und es kommt doch noch viel schlimmer. Die Türkei ist zurzeit ein Musterbeispiel dieses Phänomens. Seit 24. Juni ist der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt.
Dieser Fakt allein müsste alle Demokraten dieser Welt die Hände über den Kopf zusammenschlagen lassen. Doch das Ergebnis der Präsidentschaftswahl am Sonntag in der Türkei ist schlimmer, als viele es sich vorstellen können. Denn mittlerweile ist Erdogan vollkommen von der Gnade der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) abhängig – und verglichen mit den Mitgliedern und Funktionären dieser Partei ist Erdogan ein lupenreiner Demokrat.
Erdogan gewann die Präsidentschaftswahl beim ersten Wahlgang mit einer knappen aber deutlichen Mehrheit, mit 52,4 Prozent der Stimmen. Doch die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), der er vorsteht, verlor bei der parallelen Parlamentswahl haushoch. Hatte sie 2015 jede zweite Stimme erhalten, fiel ihre Unterstützung am Sonntag auf 42 Prozent; die AKP büßte damit ihre absolute Mehrheit ein. Die verlorenen acht Prozentpunkte wanderten nicht, wie erwartet, zur liberal-bürgerlichen Opposition, sondern zur MHP, deren Anhänger bei der Präsidentschaftswahl ihren Kreuz bei Erdogan machten. Damit wird die MHP, im deutschsprachigen Raum als „Graue Wölfe“ bekannt, die Schlüsselpartei im türkischen Parlament.
Erdogan ist nun also Staatspräsident, kann aber kein einziges Gesetz durchs Parlament bringen, ohne die Zustimmung der MHP und dessen „Führer“ Devlet Bahceli. Doch Erdogan benötigt viele neue Gesetze, möchte er das Präsidialsystem verankern, das auf seine Alleinherrschaft zugeschnitten ist. Er wird also Kompromisse mit der MHP eingehen müssen.
Die MHP, die die Türkei damit für die nächsten Jahren als Geisel nehmen dürfte, ist eine klassische faschistische Partei mit dazugehörigem Führerkult, Rassismus und gewalttätigen Para-Militärs. Ideologisch steht sie für die sogenannte „türkisch-islamische Synthese“, die davon ausgeht, dass der Islam Teil der türkischen Identität sei. Aber auch der Führungsanspruch in der islamischen Welt ist Teil dieser Denke.
Um zu verstehen, wie die Faschisten drauf sind, reicht es, die parteinahen Webseiten zu durchforsten. Da wird schnell deutlich, dass nicht wenige ihrer Anhänger ernsthaft von einer Weltherrschaft der Türken träumen. Einer schreibt zum Beispiel folgende Sätze, nachdem er allgemein über Weltherrschaftstheorien palavert: „Ohne emotional zu werden, muss offen gesagt werden, dass unter denjenigen, die bisher die Weltherrschaft anstrebten, nur eine Nation diese Ehre verdient: die türkische Nation. Denn das humanste Weltherrschaftsideal ist das türkische.“ Die virtuelle Welt auf Türkisch ist voll mit solchem surrealen Unsinn.
Erdogan kann mit dem Partner gut leben. Die Grauen Wölfe sind spätestens seit 2015 begeistert von ihm. Um seine Macht zu verteidigen, hat Erdogan bewusst diese Allianz angestrebt und dafür mehrere kurdische Städte von der Armee mit schweren Waffen beschießen lassen, Teile Nordsyriens besetzt und begegnet nun der politischen Opposition mit willkürlicher Staatsgewalt.
Dass er mit entschlossener Unterstützung der MHP rechnen kann, so lange er politisch Kurs hält, sicherte ihm Bahceli noch am Wahlabend zu: „Wir werden unsere Aufgaben umgehend erledigen, um das neue System zu etablieren“, sagte er in einer Rede vor seinen Anhängern. Er freute sich ebenso über die zukünftige „Schlüsselrolle“ seiner Partei und meinte im selben Atemzug, der Wähler habe seiner Partei den Auftrag gegeben, „auszubalancieren und zu kontrollieren“. Nun ringen Erdogan und Bahceli um die Aufteilung der Macht. Vor dem Start der Verhandlungen pfiff Bahceli Untertanen, die zu laut wurden, zurück. Sie hatten sich öffentlich darüber gefreut, dass die AKP ohne sie nichts mehr ausrichten kann.
Was ist aus der Opposition geworden, mag man fragen. Sie hatte sich vor der Wahl erstaunlich diszipliniert gezeigt. Doch sobald die Wahl verloren war, ist sie wieder in sich zusammengefallen. In der größten Oppositionspartei, der laizistischen, kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), bricht einmal mehr ein Machtkampf aus. Die Funktionäre der Guten Partei (IYIP), die sich von der MHP abspalteten, weil sie nicht bereit waren, mit Erdogan zusammenzugehen, enttäuschten mit knapp zehn Prozent der Stimmen jeden Wähler, der in ihnen mal eine Alternative zu Erdogan gesehen hatte.
Nur die radikal-linke und prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) hat etwas zu feiern. Die HDP ist lange schon Zielscheibe von allen möglichen Repressalien des Regimes gewesen. Ihre Vorsitzenden wurden eingesperrt, tausende Funktionäre ebenso, und ihre Versuche, eine Wahlkampagne zu führen, scheiterten allzu oft an brutalen Angriffen der Grauen Wölfen. Ihr charismatischer Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas führte seine unterhaltsame Wahlkampagne aus dem Gefängnis heraus.
Am Ende erhielt Demirtas mehr Stimmen, als er vor einigen Jahren als Präsidentschaftskandidat bekam und wurde dritter – noch vor Meral Aksener von der IYIP. Noch erfolgreicher war seine Partei bei der Parlamentswahl. Obwohl das Regime alles tat, um sie an der absurd hohe Zehn-Prozent-Hürde scheitern zu lassen und auch die bürgerliche Opposition sich darüber heimlich freute, errang die HDP 11,6 Prozent der Stimmen und zog als drittstärkste Kraft ins Parlament ein – mit 20 Abgeordneten mehr, als der MHP zustehen.
Dieser Erfolg ist jedoch ein kleiner Trost. Denn die HDP wird ab jetzt mit vermehrten willkürlichen Übergriffen rechnen und weiterhin ums Überleben kämpfen müssen. Die ersten Anzeichen dafür gibt es schon: Zwei Tage nach der Wahl rief Innenminister Süleyman Soylu die HDP-Ko-Vorsitzende Pervin Buldan an und drohte ihr mit den Worten: „Ihr habt euer Recht auf Leben verwirkt. Haut ab, wohin ihr wollt!“