„Israel folgt den Weg Hitlers!“ Diese provozierenden Worte kamen aus dem Munde eines Mannes in Juli 2014, der zu diesem Zeitpunkt das Geschick eines Landes in seiner Hand hielt und sicherstellen wollte, dass das so bleibt: Recep Tayyip Erdogan, der damalige türkische Ministerpräsident. Israel hatte gerade den Gaza-Streifen bombardiert, während in der Türkei ein Wahlkampf tobte. Erdogan kandidierte für den Staatspräsidenten-Posten und hatte zwei mächtige Gegenkandidaten.
Der Vorwurf, Israel verhalte sich wie das Nazi-Deutschland, war pure Wahlkampagne und zeigte sich nützlich. Denn, selbst wenn diese Äußerung Wahlkampfpolemik war, fiel sie auf fruchtbarem Boden. Der Antisemitismus in der Türkei ist stark und nimmt mit jedem Tag zu. Dass in 2005 Adolf Hitlers Mein Kampf unter den Bestsellern landete, war kein Zufall. Jedenfalls Erdogan gewann die Wahl mit 51 Prozent der Stimmen. Es war eine Zeit, in der niemand demokratische Verhältnisse und den Rechtsstaat in der Türkei infrage stellte. Kurz nach der Wahl sah es anders aus. Erdogan, frisch gewählt, gab bekannt, er habe nicht vor sich an die Verfassung des Landes zu halten. So wie er gestrickt ist, hatte er wieder einmal direkt und selbstbewusst angekündigt, was er in den folgenden Jahren tun würde.
Am 1. April dieses Jahres griff Erdogan Israel erneut an. Diesmal war Israel für ihn ein Terrorstaat. „Hey Netanyahu“, rief er den Delegierten eines lokalen Parteitages seiner Partei zu, „du bist ein Besatzer ..., du bist ein Terrorist. Die Geschichte registriert alles, was ihr diesen unterdrückten Palästinenser antut!“ Diesmal stehen aber offiziell keine Wahlen bevor. Ist es also diesmal mehr als Wahlkampf?
Wohl kaum. Denn seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten ist viel passiert im Erdogan-Land. Er zettelte einen Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung an, steigerte den Druck auf alle Oppositionellen. Dann trotzte er 2016 einen ominösen Putschversuch, dessen Urheberschaft Erdogan und seine Anhänger der Gülen-Bewegung anlasten – eine konservativ-islamische Gemeinde, die bei ihm in Ungnade gefallen war. Schließlich nutzte er diesen Putschversuch für eine politische Hexenjagd aus, sperrte kritische Journalisten, kurdische Politiker sowie türkische und ausländische Menschenrechtler in Gefängnisse ein, setzte mit einem Referendum, dessen Integrität bis heute umstritten ist, das Präsidialsystem durch. Seine letzte „Heldentat“ war der Kleinkrieg in Afrin gegen die dortigen Kurden – der einzige Landesteil Syriens, in dem bis dahin während des brutalen Bürgerkrieges kein einziger Schuss gefallen war.
All das konsolidierte einerseits seine Unterstützung bis zu einem gewissen Maß, andererseits fordert es seinen Zoll. Die allgemeine Unterstützung für Erdogan sinkt. Das wiederum durchkreuzt seine Pläne. Denn Erdogan hat zwar das Präsidialsystem durchgebracht, aber er ist selbst offiziell noch nicht der Präsident. Diese Wahl steht am 3. November 2019 bevor. Davor gibt es eine Testwahl: die Kommunalwahlen am 24. März 2019. Manche in der Opposition vermuten sogar eine vorgezogene Präsidentschaftswahl. Selbst wenn alles beim offiziellen Datum bleibt, befindet sich das Land am Bosporus wieder im Wahlkampfmodus.
Es gibt weitere Anzeichen dafür, als nur die Äußerungen Erdogans zu Israel. Zumindest augenscheinlich lockert er seinen eisernen Griff im Land. Er kritisiert die Richter, die in den vergangenen Monaten jeden unter Terrorverdacht in den Knast steckten, der sich gegen Erdogans Politik äußerte. Die Richter seien zu weit gegangen, sagt Erdogan nun völlig entgegen vorheriger Polemiken, die Bevölkerung brauche ein Gefühl der Gerechtigkeit.
Schon bald will er zudem ein neues Reformpaket für die Wirtschaft bekanntgeben, das kurzfristig Investitionen ankurbeln soll, obwohl dessen Wirkung mittel- und langfristig für die angeschlagene türkische Wirtschaft kontraproduktiv sein könnte. Durch das bewusste Verändern der Berechnungsgrundlagen hatten seine Männer in der Verwaltung ihm bereits einen Erfolg beschert: Die türkische Wirtschaft wuchs 2017 um fast sieben Prozent. Dass dabei die Inflation hochschnellte, der Staatshaushalt große Lücken aufwies und die Schulden des Landes erheblich stiegen, sollte jedoch nicht erwähnt werden. Seinen Finanzminister, der das trotzdem wagte, rügte Erdogan einige Tage später mit harschen Worten.
Auch außenpolitisch sind Vorbereitungen auf die Wahl unübersehbar. Das Gipfel-Treffen mit der EU – die EU nannte das Treffen offiziell „ein Treffen höchster Ebene“ – im bulgarischen Varna war ein Geschenk für ihn. Er schildert das Treffen seitdem als die Überwindung aller Probleme mit den europäischen Partnern. Vergangene Woche empfing er zudem den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den iranischen Staatspräsidenten Hassan Ruhani in Ankara. Es ging um Syrien und Erdogan weckte erfolgreich den Eindruck, die Türkei unter seiner Führung gestalte zusammen mit verlässlichen Partnern die Zukunft Syriens.
Mit seinem aktuellen Vorwurf an die Adresse Israels schürt Erdogan gezielt Hassgefühle in der Bevölkerung und hofft, damit erhebliche Stimmen an sich zu binden – zumal seine ernsthaften Gegner im rechten Spektrum zu finden sind. In der realen Welt jedoch werden diese Worte wahrscheinlich kaum größeren Effekt haben. Israel unterstützt zwar offen die Gründung eines kurdischen Staates und sorgt damit selbst für Spannungen im Verhältnis zu Ankara. Dennoch ketten starke wirtschaftliche Interessen beide Länder aneinander. Während Erdogans Herrschaft vervierfachte sich das Handelsvolumen zwischen Israel und der Türkei. Allein in den vergangenen zwei Jahren wuchs der Handel um 14 Prozent. Gleich nach Erdogans verbaler Attacke sagte Israels Minister dem Nachrichtendienst Yisrael Katz, die jüngsten Wortgefechte beeinflussten diese Beziehungen nicht. Rund 25 Prozent des türkischen Exports in die Region erfolge über den israelischen Hafen in Haifa. Außerdem verhandeln beide Länder, bisher sehr erfolgreich, über eine Erdgasleitung mit der Israel sein neuentdecktes Erdgas in die Türkei exportieren will. Das gute Geschäft will niemand stören.