Die Türkei vor den Wahlen

Augen zu und durch

d'Lëtzebuerger Land vom 25.05.2018

Wird der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentschaftswahl am 24. Juni entmachtet? Diese Frage beschäftigt in diesen Tagen die westeuropäische Öffentlichkeit. Sie schaut auf die Opposition in der Türkei. Viele hoffen, dass Erdogans als gemäßigt Konservativ geltende Konkurrentin Meral Aksener die Präsidentschaftswahl gewinnt, obwohl sie davor in der ultra-nationalistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) war und deshalb verdächtigt wird, genau so anti-westlich zu sein wie Erdogan. Manche Europäer wünschen dagegen die Laizisten der Republikanischen Volkspartei (CHP) an die Macht. Kaum jemand im Ausland will eine Wiederwahl Erdogans.

Wenn diese Aufgabe der Opposition überlassen wird, werden diese Hoffnungen womöglich verpuffen. Denn sie hat gerade größere Probleme als Erdogan. Die Oppositionspolitiker bekämpfen nämlich sich selbst. Nachdem Erdogan die Wahlen überraschend vorzog, zankten sie zunächst vergeblich um einen geeigneten gemeinsamen Kandidaten. Weil Aksener unbedingt selber kandidieren wollte, wurde die Idee begraben. Nun stellt jede Oppositionspartei eigene Kandidaten auf und hofft, dass es Erdogan nicht gelingt, schon in der ersten Runde die Wahl für sich zu entscheiden.

Dann schmiedeten die Oppositionsführer für die zeitgleich stattfindenden Parlamentswahlen eine Koalition. Denn Erdogan hatte die MHP längst mit seiner Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zusammengeführt, um der MHP über die Zehn-Prozent-Hürde zu verhelfen. CHP und Akseners Gute Partei (IYI Parti) bildeten mit weiteren bedeutungslosen rechten Parteien die Allianz der Nation, schlossen jedoch die Demokratische Partei der Völker (HDP) aus, die ebenfalls mit der Wahlhürde zu kämpfen hat. Denn die Allianz der Nation ist, wie der Name jeden erraten lässt, nationalistisch und findet die HDP zu kurdisch und zu links. Die Mainstream-Opposition konnte nicht über den eigenen Schatten springen und riskiert, bald nicht einmal dazu in der Lage zu sein, nach einem eventuellen Wahlsieg Erdogans ihm das Leben mit parlamentarischen Mitteln zu erschweren. Denn das wäre nur mit einer Parlamentsmehrheit möglich und die wiederum gibt es nur, wenn Scheitert die HDP an der Wahlhürde, wird voraussichtlich die AKP alle Mandate in den kurdischen Gebieten gewinnen und eine verfassunggebende Mehrheit sichern.

Eben diese kurzsichtigen Kämpfe und Orientierungslosigkeit der Opposition entmutigt diejenigen Türken, die Erdogan nach 17 Jahren loswerden wollen. Inhaltlich sieht es nicht besser aus. Die Opposition ist nationalistischer als Erdogan. Sie kritisiert Erdogan im Grunde nur deshalb, weil er angeblich nicht hart genug gegen den Westen auftritt, Kurden nicht entschieden bekämpft, ja, früher sogar mit der kurdischen Guerillaorganisation PKK Friedensgespräche führte und schließlich weil er den für den gescheiterten Putschversuch verantwortlich gemachten Prediger Fethullah Gülen und seine Gefolgsleute nicht hartnäckig genug verfolge.

Dennoch haben Erdogan-Gegner eine reale Chance. Denn auch Erdogan macht entscheidende Fehler. Zuletzt verunsicherte er die eigenen Wähler mit seinen wirtschaftspolitischen Aussagen. Der Hintergrund dafür ist mindestens so kompliziert wie die politische Lage des Landes. Da die Zinsen in der Türkei seit 2000 hoch sind und der US-Dollar schwach, lebt die türkische Wirtschaft von ausländischen Investoren. Doch seitdem der US-Dollar wieder an Wert gewinnt und alle sogenannte Neuen Märkte zum Stolpern bringt, ziehen die Investoren ihr Geld ab und investieren lieber in US-Dollar. Die türkische Lira blutet aus. Mit sinnlosen politischen Kämpfen, seinem Autoritarismus und der aggressiven Außenpolitik heizt Erdogan die Krise zusätzlich an. Seine Art verunsichert die Investoren. Dadurch büßte die türkische Währung seit Jahresanfang einen Viertel ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar ein.

Hätte die AKP bisher eine solide Wirtschaftspolitik gemacht, hätte die türkische Wirtschaft dem Druck widerstanden. Doch Erdogan und seine Ökonomisten nutzten die ins Land fließenden Milliarden in knapp 20 Jahren nicht dazu, eine nachhaltige und produktive Wirtschaft aufzubauen. Stattdessen wurden mit „heißem Geld“ notwendige Rohstoffe und Bauteile für den Privatsektor billig importiert. Auch der Konsum stieg rasant. Jetzt verteuern sich Importe, von denen die türkische Wirtschaft abhängig ist und das führt zu einer schnell steigenden Inflation. Der Privatsektor ist heute hoch verschuldet und ein Risikofaktor. Der Staat errichtet bereits Fonds, um zahlungsunfähigen Firmen unter die Arme zu greifen. Ein neues Gesetz schafft die Voraussetzung dafür, Devisentransfer ins Ausland zu stoppen.

Damit vor den Wahlen die Arbeitslosigkeit nicht weiter steigt, verhindert Erdogan die Erhöhung des Zinssatzes. Gleichzeitig unterstellt er seinen Kritikern Zusammenarbeit mit „dunklen ausländischen Mächten“. Zuletzt machte er überdies den Fehler in London den ausländischen Investoren ins Gesicht zu sagen, dass er diese Politik weiterführen würde, sollte er die Wahl gewinnen und beschleunigte so den Vertrauensverlust in die türkische Wirtschaft. Experten fürchten, dass nun noch weniger ausländisches Kapital ins Land kommt und die Wirtschaft in eine noch tiefere Krise stürzt. Und diese Befürchtung, die öffentlich rege diskutiert wird, kommt bei jenen Wählern nicht gut an, die Erdogan bisher vor allem aus wirtschaftlichen Gründen wählten. So gefährdet Erdogan seine Macht selbst – auch wenn die Opposition unfähig ist. Er weiß aber, dass es zu spät ist für eine Kurskorrektur. Ihm bleibt nur einen Weg: Augen zu und durch!

Cem Sey
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