Es sind entscheidende Tage für die deutsche Sozialdemokratie. Die 156 Jahre alte Partei, die Deutschland mitgeprägt hat, wählt eine neue Führung. Seit vergangenem Dienstag können die knapp 420 Tausend Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in einer Stichwahl über ihre neue Parteispitze abstimmen. Wahrscheinlich hätte kaum jemand außerhalb Deutschlands diese Wahl wahrgenommen, ginge es nicht auch darum, die tiefe existenzielle Krise der Partei zu überwinden. Denn die SPD scheint am Ende ihres Lebens angekommen zu sein.
Die Partei, die nur einige Jahre nach dem Kaiserreich gegründet wurde, unter dem eisernen und konservativen Reichskanzler Bismarck trotz aller Unterdrückung gewachsen ist und deren führende Figuren 1918 das Ende des Kaiserreiches und die Gründung der Republik ausgerufen haben, war noch nie in ihrer Geschichte für die Menschen in Deutschland so unbedeutend wie heute. Bei den letzten Europawahlen in Mai bekam die Partei nur noch 15,8 Prozent der Stimmen. Zur Zeit sehen Prognosen die Partei bei circa 14 Prozent.
Wie konnte es dazu kommen? Das ist eine Frage, deren Antwort noch niemand sicher geben kann. Fakt ist, dass nicht nur die SPD ums Überleben kämpft, sondern auch die konservative Christlich Demokratische Union (CDU) von Kanzlerin Angela Merkel. Es ist auch nicht nur eine Krise, die mit Deutschland begrenzt ist. In allen westlichen Demokratien versuchen die so genannten Volksparteien sich in die Zukunft zu retten – viele sind daran bereits gescheitert.
Auch die deutsche Sozialdemokratie kann diese Frage bisher nicht abschließend beantworten. Liegen die schlechten Wahlergebnisse daran, dass die Partei lediglich ein Kommunikationsproblem hat? Das ist zumindest die gängige Antwort, die die aktuelle Führung der Partei gibt. Die Partei habe Großartiges geschafft und in einer Großen Koalition mit der CDU wesentliche Reformen wie den Mindestlohn durchgesetzt. Man habe jedoch diese Erfolge den Wählenden nicht klar genug erklären können.
Oder ist es die im Stillen vollzogene grundsätzliche Neurichtung der Partei, die noch unter dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder geschah? Damals, 2006, beschloss ein Parteitag die Sozialdemokratie nicht mehr Sozialdemokratie sondern soziale Demokratie zu nennen. Es war der gleiche Geist, der die bis dahin geltenden Grundsätze des Sozialstaates beseitigte und die SPD auf einen neoliberalen Kurs einschwenken ließ. Hartz IV, der Name der damaligen Reform, ist mittlerweile das Symbol allen Übels im Sozialstaat Deutschland geworden.
Es ist aber auch möglich, dass Parteien, die auf ideologischen Grundsätzen organisiert sind, bei der Bevölkerung der westlichen Welt einfach nicht mehr ankommen. Es ist aber offen, was in einem solchen Fall diese Parteien ersetzen könnte. Außerdem spricht der Aufschwung rechtspopulistischer und -radikaler Parteien, die ganz offensichtlich auf ideologischen Grundlagen stehen, gegen diese These.
Die SPD hat keine Zeit, um auf die Antwort auf diese Frage zu warten. Denn sie geht zusehends unter. Deshalb nahm die Parteiführung den Rücktritt der ehemaligen Parteichefin Andrea Nahles am 2. Juni 2019 zum Anlass einen ganz neuen Wahlprozess einzuführen. Zwischen dem 4. September und dem 12. Oktober organisierte die SPD 23 Regionalkonferenzen, auf denen sich insgesamt sechs Kandidatenpaare vorstellten. Kandidatenpaare, denn die SPD hat neben dem Wahlprozess auch das zukünftige Führungsmodell geändert: Ab jetzt wird die Partei von einer Doppelspitze aus Mann und Frau geführt werden müssen.
Nach zwei Verzichten und dem ersten Wahlgang, bei der die SPD-Mitglieder ihr Votum für die neue Doppelspitze per Post, aber auch online, abgeben konnten, sind nun nur noch zwei Paare übrig. Da sind zunächst der amtierende Finanzminister Olaf Scholz, der für die aktuelle Politik seit Anfang 2000-er Jahre und für den Fortbestand der großen Koalition steht und seine Mitstreiterin Klara Geywitz, ehemalige Abgeordnete des Landes Brandenburg. Ihnen stehen gegenüber Saskia Esken, eine Bundestagsabgeordnete und ihr Team-Partner Norbert Walter-Borjans, früherer Finanzminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Die letzteren befürworten eine deutliche Profilierung der Partei als eine soziale Partei und stehen zumindest kritisch gegenüber der Großen Koalition in Berlin.
Beide Paare setzten sich mit ungefähr zwanzig Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang durch. Wie der zweite Wahlgang, der bis zum 29. November läuft, ausgehen wird, ist völlig offen.
Während der zahlreichen Regionalkonferenzen, bei denen sich die Kandidaten vorgestellt hatten, schienen die Kritiker der „GroKo“ genannten großen Koalition vorne zu leigen, allen voran das Team Esken/Walter-Borjans. Dann am Tag der Abstimmungs-Auszählung kam für die Parteizentrale die Ernüchterung: Nur 53 Prozent der Mitglieder hatten von ihrem Stimmrecht überhaupt Gebrauch gemacht, trotz massiver Investitionen der Partei in die innerparteiliche Demokratie und Transparenz. Warum das teure Wahlverfahren, welches in der Öffentlichkeit durchaus auf positive Resonanz gestoßen ist, die SPD-Mitglieder selber kaum aktivieren konnte, auch dazu gibt es keine eindeutigen Antworten.
Nun also soll sich am 29. November entscheiden, ob Olaf Scholz und Klara Geywitz die restlichen 47 Prozent erreichen können – und damit der Kurs des „weiter so“ bestätigt wird. Oder das Paar Esken/Walter-Borjans, das auch von den eher linken Jungsozialisten unterstützt wird, das Rennen macht und die SPD zu einer moderneren Version der klassischen Sozialdemokratie führen. Ein Parteitag am ersten Dezember-Wochenende soll schließlich das Ergebnis der Mitgliederbefragung offiziell bestätigen. Dann steht auch die Entscheidung an, ob die SPD in der GroKo weitermacht.