Sie lauerten am frühen Nachmittag gegenüber der Schule. Einige postierten sich auf der Schulseite, in den Hauseingängen einer Querstraße, mit einem Taxistand an der Ecke. Die Schule lag an einer viel befahrenen Hauptstraße in Ankara. Kurz nach Unterrichtsende füllten die Schüler den schmalen Bürgersteig. Sie beeilten sich, um nicht zurückzubleiben. Mehrere Hundert Gymnasiasten passierten, eng beieinander, das Schultor. Mit beunruhigten Gesichtern und schnellen Schritten marschierten sie Richtung Stadtzentrum. Sie wussten: Erst in zwei Kilometern waren sie in Sicherheit.
Weit kamen sie nicht. Nachdem sie den Taxistand passierten, wo der Bürgersteig durch einen Bauzaun verengt war, knallte es. Zunächst nur ein, dann ein zweites Mal. Zwei Kugeln flogen quer über die Straße und blieben im hölzernen Zaun stecken. Dann folgte eine Salve – eine vollautomatische Pistole sei das gewesen, sagte später jemand – und Chaos brach aus. Schüler warfen sich in Panik hin, Autofahrer beschleunigten ihr Tempo, um nicht Opfer eines Querschlägers zu werden. Der Horror endete nicht, als die Waffe schwieg. Dann folgte der eigentliche Angriff: Mehrere Dutzend Männer, kaum älter als die Angegriffenen, bewaffnet mit Schlagringen, Holzlatten und Eisenketten, stürzten sich auf die am Boden liegenden Jugendlichen und prügelten auf sie ein. Als eine halbe Stunde später die Polizei erschien, war keiner mehr vor Ort. Sie würden ohnehin nichts ausrichten können – das wussten alle Beteiligten. Denn die Täter wurden durch die Nationale Front geschützt, die an der Macht war – eine Koalition von Konservativen, Faschisten und Islamisten. Auch heute ist sie unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan Teil der Regierung.
Ich war damals einer der Schüler in der türkischen Hauptstadt. Es war 1978. Die Türkei versank in immer mehr Chaos und Gewalt. Die oben beschriebene Szene wiederholte sich jeden Tag, an jeder Schule und Universität im ganzen Land. Die Täter waren fast immer dieselben: faschistische Graue Wölfe, denen manchmal Islamisten, die Akincis, zu denen Erdogan damals angehörte, zur Hilfe eilten. Ihre Opfer: linke Jugendliche. Selten konnten letztere den Spieß umdrehen, der Staat hatte kein Interesse daran, ihr Leben zu schützen. Mehr als fünftausend Menschen verloren in den darauf folgenden drei Jahren ihr Leben.
Die Militärdiktatur beendete das Chaos 1982, als sie politisch links stehende Schüler und Studenten zu Zehntausenden ins Gefängnis warf. Manche der Faschisten, die Mordfälle verantworteten, landeten ebenfalls in Haft. Viele dieser „Kommandos“, wie sie sich nannten, wechselten jedoch zur Polizei. Wer dort nicht unterkam, arbeitete sich mit politischer Unterstützung hoch. Heute sitzen sie überall im Land in einflussreichen Positionen. Ihre Aggressivität hat jedoch kein bisschen nachgelassen. Es ist eine politisierte Generation, dessen größerer Teil Verlierer und der andere Teil Gewinner eines Bürgerkrieges wurde. Heute haben die damaligen Täter nicht mehr nur die Unterstützung der Machthaber, sie sind selbst an der Macht. Sie verhaften nun ihre damaligen Opfer im Schutz ihrer Ämter.
Seit der Freilassung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel wird gefragt, ob seine Freiheit einem Deal zu verdanken ist. Eine berechtigte Frage. Denn nachdem er als Geisel genommen wurde, arbeitete das türkische Parlament fleißig an einem neuen Gesetz. Seit einigen Monaten besitzt Erdogan das Recht, mit ausländischen Regierungen über Gefangenentausch zu verhandeln. Es ist kein Geheimnis, dass er Yücel gegen angebliche Putschisten tauschen wollte, die in Europa Schutz suchten. Später kam ein Waffendeal mit Deutschland ins Gespräch. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel dementierte. Logisch klang ein solcher Deal gleichwohl, als „Win-Win-Situation“, von der das türkische Regime so gerne spricht.
Am Ende hat Ankara für sich womöglich einen viel besseren Deal ausgehandelt. Denn statt Deal kehrt so etwas wie „Normalität“ zurück. Gabriel sagte nach Yücels Freilassung, man solle „alle Gesprächsformate wieder in Gang setzen“, um die grundsätzlichen Fragen zwischen Europa, der Türkei und Deutschland anzusprechen. Anfang März ist es so weit. Dann treffen die EU und die Türkei in Bulgarien zu einem Gipfel zusammen. Damit gibt die EU einer wichtigen Forderung des Regimes in Ankara nach. Denn Erdogan und seine Handlanger empören sich schon lange darüber, dass sie zu keinem EU-Gipfel mehr eingeladen werden.
Weitere Treffen sind angekündigt. Türkische Minister, ja der große Chef Erdogan selbst werde Merkel besuchen, so bald die Bundesregierung stehe, heißt es in Ankara. Die Freude des Regimes ist nicht zu übersehen. Erdogan, Ministerpräsident Bilal Yildirim und Außenminister Mevlut Cavusoglu können nicht aufhören, die Freundschaft des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu preisen. Auch Gabriel kommt gut weg.
Vom Tauwetter profitiert besonders die Wirtschaft. Viele europäische Firmen investierten über Jahre in der Türkei. Ihre Produktion dort ist Teil eines weltweiten Produktionsnetzwerkes. Diese Investitionen abzubauen, wäre nahezu unmöglich, aber wegen der Spannungen in den vergangenen Monaten war Geschäftemachen in der Türkei auch nicht einfach. Also klopften Firmenvertreter in Berlin an die Tür der Regierung und baten um Mäßigung. Da nun wieder „alle Gesprächsformate“ auf dem Tisch sind, steht auch einer Revision der Zollunion zwischen der EU und der Türkei nichts mehr im Weg.
Es wird also wieder „normal“ zwischen dem Unrechtsstaat Türkei und der EU. Damit ist das große Problem Ankaras aus dem Weg geräumt. In die EU will die türkische Regierung eh nicht. Aber die unterkühlten Beziehungen nervten das Regime mehr als Geiselnahmevorwürfe. Jetzt hat man zwar in allen Gebieten konträre Positionen über „grundsätzliche Fragen“, aber man redet miteinander – und das zählt.
Cavusoglu sagte während der Münchner Sicherheitskonferenz vergangene Woche, die Beziehungen zu Deutschland und Europa seien auf bestem Wege. Nur einige Deutsch-Türken würden noch stören. Der deutsche Abgeordnete Cem Özdemir sei so einer, es gebe aber noch andere. Er hat Recht. Nicht nur in Europa, sondern auch in der Türkei gibt es viele, die in dem Regime in Ankara etwas anderes sehen, als europäische Politiker: eine Schläger- und Mördertruppe, die sie vor 40 Jahren auf den Straßen der Türkei kennenlernten und die heute im Anzug und Schlips die feinen Herren spielen. Mit ihnen will die EU nun „Normalität“ vortäuschen.