Das linke Bündnis Nupes sammelte im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen die meisten Stimmen. Dennoch blieb am Sonntag bei der Ankündigung der Wahlergebnisse den Kandidaten die Freude im Halse stecken. Auch wenn einige Sekunden später dennoch gezwungenermaßen geklatscht und geschrien wurde – die Journalisten konnte das nicht täuschen. Der Schulterschluss aus Kommunisten, Sozialisten, Grünen und der France Insoumise hat trotz wochenlanger medialer Aufmerksamkeit kaum Aussichten auf eine Mehrheit in der Assemblée Nationale. Die braucht es aber, um eine neue Regierung zu stellen und Jean-Luc Mélenchon zum Premierminister zu ernennen.
Im Publikum klatscht Stéphane Troussel vor sich hin. Der sozialistische Präsident des Département Seine-Saint-Dénis starrt benommen auf die Wahlergebnisse, die auf eine Leinwand projiziert werden. Seine Frustration angesichts des französischen Wahlsystems kann er kaum verstecken: „In welchem Land außer Frankreich kann die Opposition wenige Wochen nach den Präsidentschaftswahlen die Parlamentswahl gewinnen und kommt trotzdem nicht in die Regierung? Eine Unverschämtheit ist das!“, meint Stéphane Troussel.
Die Parlamentswahlen finden in 577 Wahlkreisen statt. Nur Kandidat/innen, die in ihrem Wahlkreis am Sonntag gewinnen, kommen in die Assemblée Nationale. Da die linke Wählerschaft überwiegend urban lebt, liegt die Nupes in dicht besiedelten Städten weit vorne und sammelt dort viele Stimmen. In ländlichen Regionen sind linke Parteien etwas unbeliebter. Insgesamt werden sie Prognosen zufolge nicht mehr als 150 Sitze gewinnen, rund 100 Wahlkreise weniger als Emmanuel Macrons Partei Ensemble!
Doch auch der französische Präsident kommt in die Bredouille, denn seine Partei braucht mindestens 289 Sitze für eine absolute Mehrheit im Parlament. Ein Wahlergebnis, von dem auch sie meilenweit entfernt ist.
Mit allen Mitteln versucht Macrons Partei ihre gemäßigte Wählerschaft zu mobilisieren. Da die Rechtsextremisten trotz stattlichem Wahlergebnis von 19 Prozent geschwächter dastehen als nach den Präsidentschaftswahlen, muss für den Präsidenten ein neuer Sündenbock her: die Nupes. Seit Sonntag warnen Macrons Kandidaten vor den „Linksextremisten“, die für die Republik dieselbe Gefahr darstellten wie die Rechtsextremisten. Die blinde Hufeisenrhetorik treibt die Zentrumspartei Ensemble! in manchen Wahlkreisen in verantwortungslose Bagatellen.
In einem Wahlkreis südöstlich von Paris zum Beispiel ruft Macrons Kandidatin Roxana Maraci-
neanu (23,7%) zum „Front Républicain“ gegen ihre linke Konkurrentin Rachel Keke (37,2%) auf. Nicht nur wurde in der Vergangenheit ausschließlich gegen rechtsextreme Kandidaten zur bürgerlichen Blockade aufgerufen, hinzu kommt, dass Rachel Keke nicht mal eine richtige Politikerin ist, sondern eine ehemalige Putzfrau und eine hartnäckige Syndikalistin.
Weiter westlich im Département Essonne kandidiert die frisch ernannte Umweltministerin Amélie de Montchalin (31%) gegen den grünen Kandidaten Jérôme Guedj (38%). Falls sie im Wahlkreis verliert, muss sie zurücktreten, so lautet der Wahleinsatz aus dem Élysée-Palast. Für die 36-jährige Politikerin steht viel auf dem Spiel. Um ihre Wählerschaft von der Boshaftigkeit ihres Konkurrenten zu überzeugen, wirft sie ihm Antisemitismus vor. Dabei ist Jérôme Guedj selbst Sefarde und wurde jüdisch erzogen.
Das lächerlichste Beispiel spielt sich jedoch im Pas-de-Calais ab, wo Marine Le Pen Kandidatin ist (54%) und am Sonntag gegen die Nupes-Kandidatin Marine Tondelier (23%) antritt. Macrons Kandidatin Alexandrine Pintus, die mit zwölf Prozent in der ersten Wahlrunde ausgeschieden ist, ruft ihre Wählerschaft aber nicht dazu auf, am Sonntag links zu wählen, damit Marine Le Pen ihren Sitz in der Assemblée Nationale verliert. Stattdessen ruft sie zur Wahlenthaltung auf.
Am 24. April bedankte der wiedergewählte Präsident sich bei seiner linken Wählerschaft. Millionen Wähler/innen hatten Emmanuel Macron ihre Stimme gegeben, damit Marine Le Pen nicht das höchste Amt übernehme. Heute unterstellt seine Partei der gleichen Wählerschaft, „Feinde der Republik“ zu sein.
Dass der Präsident die Nupes aus wahltaktischen Gründen auf einen Nenner mit dem rechtsextremen Rassemblement National bringt, kann zwei fatale Folgen nach sich ziehen: eine sofortige und eine längerfristige. Falls sich am Sonntag die Umfragen bewahrheiten sollten und weder Ensemble! noch die Nupes die absolute Mehrheit erreicht, muss Emmanuel Macron nach Partnern suchen. Was in den meisten europäischen Ländern gang und gäbe ist, wäre in Frankreich eine „Folie“, so der ehemalige Premierminister Édouard Philippe.
Die V. Republik hat nahezu keine Koalitions-Erfahrung. Von 1988 bis 1991 stand hinter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand zwar auch keine absolute Mehrheit im Parlament, jedoch pflegte sein damaliger Premier Michel Rocard als gemäßigter Sozialist gute Beziehungen zu rechts-konservativen Abgeordneten. Seine Gesetzentwürfe ließen sich mit wenig Aufwand durchsetzen.
Dagegen wird die heutige Polarisierung der politischen Landschaft jegliche Zusammenarbeit wesentlich erschweren. Michel Debré, der erste Premierminister und Architekt der V. Republik, entwarf die Assemblée National so, dass sie mit einer absoluten Mehrheit funktioniert. In einer parlamentarischen Demokratie wie in Deutschland wird nach den Wahlen über Monate ein Koalitionsvertrag ausgehandelt. In Frankreich sind Parteien monolithische Klötze, die sich lieber auflösen, als mit ihren Konkurrenten zu kooperieren. Indem Emmanuel Macron die Linke respektlos behandelt, kann er eine spätere Zusammenarbeit vergessen. Doch abgesehen von der Nupes und den Rechtsextremisten bleiben dem Präsidenten nicht viele Partner.
Während der III. Republik (1870-1940) dauerte es im Schnitt drei Jahre, um über einen Gesetzestext abzustimmen – manchmal sogar mehr als zehn Jahre. Politologen befürchten, dass die neue Assemblée Nationale ähnlich unproduktiv werden könnte.
Die längerfristige Konsequenz von Emmanuel Macrons unverantwortlichem Handeln bestünde in der politischen Trockenlegung der Gesellschaft. Zum „Front Républicain“ sollte nur in äußersten Extremfällen aufgerufen werden und nicht immer dann, wenn eine Wahl knapp ausgehen könnte. Starke Bezeichnungen verlieren an politischer Aussagekraft, wenn politische Konkurrenten ohne Not als antisemitisch oder anti-republikanisch verschrien werden.
Dabei nähern die Rechtsextremisten sich bei jeder Präsidentschaftswahl dem Einzug in den Élysée-
Palast. Wie soll man die Wählerschaft in fünf Jahren dazu bewegen, gegen eine rechtsextreme Kandidatin zu stimmen, wenn Macron jede Opposition als Feind der Republik beschimpft? Diese Desillusionierung macht sich in den Parlamentswahlen bereits durch die schwindelerregenden Wahlenthaltungen bemerkbar. Alle Stimmen der zwei Wahlgewinner Nupes und Ensemble! zusammengezählt, stammen nicht mal von einem Viertel aller Wahlberechtigten.