Frankreich

Und es folgen die Parlamentswahlen

d'Lëtzebuerger Land vom 29.04.2022

Der Wahlabend von Marine Le Pen am 24. April findet im Pavillon d᾽Armenonville statt, 16. Arrondissement. Es ist ein schwüler Frühlingsabend, von der Terrasse aus sieht man die Sonne hinter dem Bois de Boulogne verschwinden und die Gäste schieben sich ein Häppchen nach dem anderen in den Rachen. Um 20 Uhr wird das Ergebnis auf eine Leinwand projiziert. Die Gäste regen sich kurz über die schlappen 42 Prozentpunkte von Marine Le Pen auf, dann flüchten sie schnell zurück zum Buffet. Einige Minuten später kehren sie mit ihrem Glas zurück vor die Bühne, wo ihre Kandidatin eine Abschlussrede hält. Marine Le Pen spricht von einem „eklatanten Sieg“, da sie das beste Wahlergebnis in der Geschichte ihrer rechtspopulistischen Partei erzielt hat. „Daher eröffnen wir heute Abend die Wahlschlacht für die Parlamentswahlen“, verkündete die gescheiterte Amtsanwärterin vor ihrer tosenden Wählerschaft. Anschließend können sie sich ausschließlich dem Essen und Trinken widmen.

Ob das Wahlergebnis sie nicht enttäusche? Die Pariserin Andréa behauptet nach der trumpischen Prämisse, die Wahl sei gefälscht. Andere, wie der pensionierte Frisör Jean-Pierre, möchten den wiedergewählten Präsidenten Emmanuel Macron die nächsten fünf Jahre ignorieren. „Ich kaufe mir ein Haus in der Bretagne, mache mich aus dem Staub und werde alles vergessen“, erklärt der Rentner mit einem Glas Rosé in der Hand. Die große Mehrheit hingegen hat Marine Le Pens Niederlage nach einem Stück Stopfleber verdaut und schwatzt jetzt schon über die nächsten Wahlen. Die Parlamentswahlen sollen für den Rassemblement National die Gelegenheit sein, ihre rechtsextreme Ideologie doch noch in die Regierung zu schleusen.

Am 12. und 19. Juni werden die 577 Abgeordneten der Assemblée Nationale gewählt. Die Partei, die im Parlament die Mehrheit gewinnt, darf die neue Regierung mit ihren Ministerinnen und Ministern bilden. Das ist nicht gesetzlich festgelegt, doch historisch haben sich die Präsidenten derweilen immer daran gehalten. Im Fall, wo die Regierung nicht vom Präsidenten sondern von der Mehrheitspartei gestellt wird, spricht man in Frankreich von einer Cohabitation. In den Zeiten, in denen die Parlamentswahlen zwei Jahre nach den Präsidentschaftswahlen stattfanden, kam das insgesamt dreimal vor: 1986 mit dem rechts-konservativen Premierminister Jacques Chirac und dem sozialistischen Präsident François Mitterand, 1993 mit Édouard Balladur als Premierminister und demselben Präsidenten, und 1997 mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin und Jacques Chirac als Präsident.

Seitdem die Parlamentswahlen aber wenige Wochen nach den Präsidentschaftswahlen stattfinden, kam es noch nie zu einer Cohabitation. Der frisch gewählte Präsident genießt üblicherweise nach seinem Sieg einen sogenannten État de grâce und besetzt dank seiner (oft kurzweiligen) Beliebtheit problemlos die Mehrheit der Sitze im Parlament.

Beim wiedergewählten Emmanuel Macron ist das anders: Die Franzosen kennen seine Politik und sind zum Teil davon enttäuscht. Seine Gegner versuchen seine Unbeliebtheit in den Parlamentswahlen auszunutzen. Hier handelt es sich einerseits um den rechtsextremen Pakt. Der islamfeindliche Essayist Éric Zemmour (sieben Prozent in der ersten Wahlrunde) streckt seiner Konkurrentin Marine Le Pen die Hand aus und möchte mit einer „nationalistischen Union“ die Mehrheit im Parlament ergattern.

Doch auch im linken Spektrum laufen die Bündnis-Verhandlungen zwischen Jean-Luc Mélenchons Partei La France Insoumise, den Sozialisten, den Ökologen und den Kommunisten auf Hochtouren. Anfang der Woche ließ der linke Spitzenkandidat sogar Sticker drucken mit der Aufschrift: „Mélenchon Premier Ministre“. Denn wenn das linke Bündnis unter dem Banner der Union populaire die Parlamentswahlen im Juni gewinnt, könnte es auch den Premierminister stellen.

Dabei bestand Jean-Luc Mélenchon in seinen Wahltreffen regelmäßig darauf, dass die eigentliche Stärke der Union populaire seine Partei sei und nicht er selbst. Insofern wirkt sein neuer Slogan „Mélenchon premier ministre“ etwas egozentrisch – wie eine Selbstkrönung à la Napoleon. Ob der linke Politiker selbst an seine Ernennung zum Premierminister glaubt? Wohl eher nicht. Denn auch wenn es zu einem Bündnis des gesamten linken Spektrums kommt, so wird es aktuellen Umfragen zufolge maximal 93 von 577 Sitzen gewinnen, wobei Emmanuel Macrons Partei La République en Marche auf 368 Sitze kommen könnte.

Der große Unterschied liegt darin, dass es schwieriger ist, bei den Parlamentswahlen gut abzuschneiden, als bei den Präsidentschaftswahlen. Um durch die erste Wahlrunde am 12. Juni zu kommen, muss ein Kandidat im jeweiligen Wahlkreis mindestens auf 12,5 Prozent der Wahlberechtigten kommen; nicht auf 12,5 Prozent der Stimmen. Wenn beispielsweise nur die Hälfte aller Wahlberechtigten wählen geht, muss der Kandidat 25 Prozent der Stimmen sammeln, um sich zu qualifizieren. Da die Beteiligung bei diesen Wahlen üblicherweise recht niedrig liegt, dürfte es für Mélenchon demnach schwierig werden. Zum Vergleich: Dieses Jahr hat er mit knapp 22 Prozent im ersten Wahlgang das beste Ergebnis seiner gesamten Polit-Karriere erzielt.

Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwiefern eine Kohabitation mit Jean-Luc Mélenchon oder Marine Le Pen überhaupt wünschenswert wäre. Nicht, dass das Konzept per se abzulehnen sei, denn die letzte Kohabitation mit Jacques Chirac und Lionel Jospin bleibt den meisten Franzosen in eher guter Erinnerung. Der sozialistische Premierminister Jospin konnte eine Vielzahl sozialer Reformen durchsetzen, von denen die Bevölkerung heute noch profitiert.

Der Unterschied zwischen der Kohabitation Chirac-Jospin von 1997 bis 2002 und heute ist, dass sich damals beide Politiker bei den wichtigsten Visionen einig waren, obwohl sie aus zwei gegensätzlichen politischen Familien stammten. Beide wollten zum Beispiel die Europäische Union rund um die deutsch-französische Freundschaft stärken. Heute teilen weder Jean-Luc Mélenchon noch Marine Le Pen die pro-europäischen Ambitionen von Präsident Macron, zum Beispiel, weil sie beide für ein protektionistisches Wirtschaftsmodell plädieren.

Die sogenannte „dritte Wahlrunde“, wie die Parlamentswahlen von den Verlierer-Parteien genannt werden, können wahrscheinlich kein konkretes Ergebnis hervorbringen. Dennoch hat ihr Diskurs Konsequenzen. Sie vermitteln damit indirekt, dass Emmanuel Macrons Wahlsieg nicht legitim sei. Von der Putin-Freundin Marine Le Pen überraschen demokratieskeptische Formulierungen nicht. Doch dass nun auch im linken Spektrum versucht wird, Emmanuel Macron einen Gegner ins Hôtel Matignon zu setzen, zeugt doch von einem eher fragwürdigen Demokratieverständnis.

Leonardo Kahn
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