Nicht erst seit filmtheoretischen Aufsätzen wird das Kinobild auch als Fenster hin zu unbekannten Welten und Realitäten gedeutet. Hitchcocks Rear Window ist in dieser Hinsicht ein Musterbeispiel. Doch schaute Jeff Jefferies aus dem Fenster in den Hof, kehrt im Film Nowhere Special die zentrale Figur diesen Blick um. James Norton verkörpert John, einen Mittdreißiger und alleinerziehenden Vater. Seine Frau hat die Familie kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes verlassen. James Norton verdient seinen bescheidenen Lebensunterhalt als Fensterputzer. Tagein, tagaus steht er vor etlichen Fenstern und erhascht einen Blick vom Leben ihm unbekannter Menschen. Ziemlich bald stellt sich heraus, dass er solche Blicke nicht nur in seinem beruflichen Alltag wirft – werfen muss. John ist sterbenskrank und eine Heilung nicht in Aussicht. Nowhere Special erzählt davon, wie er versucht, gemeinsam mit dem Sozialamt eine Pflegefamilie für seinen Sohn Michael zu finden, den er nach seinem Tod hinterlassen wird. Immer wieder besucht die kleine Familie potenzielle Haushalte, doch Vater John tut sich mit einer Entscheidung berechtigterweise schwerer, als zunächst angenommen.
Nowhere Special ist der neue Filme des in Rom gebürtigen Uberto Pasolini. Wobei: neu muss relativiert werden. 2020 lief der Film im Orrizzonti-Programm der Filmfestspiele von Venedig, dem zweiten Wettbewerb des Festivals; „Un certain regard“ der Mostra quasi. Dort hatte Pasolini vor fast zehn Jahren für seinen vorherigen Spielfilm Still Life mit Eddie Marsan in der Hauptrolle den Regie-Preis erhalten. Unter Orizzonti-Jurypräsidentin Claire Denis ging der neue Film jedoch leer aus.
Was man Nowhere Special zugute halten kann – und es wurde nicht nur einmal von der Presse hervorgehoben – ist Pasolinis Versuch, rührselige Sentimentalität zu vermeiden, wie sie mit dieser Art Geschichten oft einhergeht. Johns Krankheit wird nie beim Namen genannt, Pasolinis Fokus liegt ganz woanders, und trotzdem versteht sich Nowhere Special als eine in ein Krebsdrama eingebettete Familiengeschichte. Very british, wohlgemerkt. Gerät man beim Namen Uberto Pasolini fälschlicherweise in Versuchung, einen kinematografischen Stammbaum zu zeichnen, den es nicht gibt – verstärkt noch durch die Tatsache, dass der Nowhere Special-Pasolini Neffe von Luchino Visconti ist, dem kompletten Gegenteil des radikalen, 1975 ermordeten Pier Paolo Pasolinie – so ist der Film des Italieners das klare Produkt des britischen Sozialdramas, wie man es von Ken Loach her kennt. Minus den politischen Aspekt und minus das groß ausholende Drama. Pasolini inspiriert sich zwar an einer wahren Begebenheit – was der Film erst im Abspann zu verstehen gibt –, konzentriert sich trotzdem lieber auf das Vater-Sohn-Gespann und die kleinen alltäglichen Momente zwischen den beiden Figuren.
Pasolini, ehemals Investmentbanker in London, der unter anderem The Full Monty produzierte, hat vielleicht seine komplette Filmkarriere im angelsächsischen Raum verbracht: So wirken das Drehbuch, die Situationen und die Dialoge dennoch wie eine blasse Kopie der britischen Social drama-Filmtradition. Immer wieder schlittert er am simplistischen Pathos vorbei, der das emotionale Grundgerüst ins Wanken zu bringen droht. Etwa, wenn die potenziellen Pflegefamilien John und dem kleinen Michael gegenübersitzen und ihre Motive erklären, Pflegefamilie werden zu wollen. Es sind diese Momente, während denen manche Darsteller/innen, vielleicht auch des Drehbuchs wegen, in völlig deplazierte Klassen-Karikaturen verfallen, die das Original von der Kopie unterscheiden. Man kann so manches an Ken Loachs spätem Œuvre kritisieren, aber seine präzise Hand in der Schauspielführung und seine dramaturgische Konsequenz, die das Soziale nie vom Politischen trennt, ist schwer zu kopieren.
Loach hätte sehr wahrscheinlich keinen Londoner gecastet, um ihn in eine (nord)irische Figur schlüpfen zu lassen. Aber es ist zu einem großen Teil James Norton zu verdanken, dass Nowhere Special erreicht, was er erreichen will. Einerseits ein tearjerker zu sein, der andererseits trotz allem versucht, Nuancen an den Tag zu legen, die so vielleicht nicht unbedingt im Skript standen. Norton spielt mit Understatement; was trägt nicht nur Pasolinis Dramaturgie und die existenzielle Thematik trägt, sondern die gesamte Arbeit im Vater-Sohn-Gespann ausmacht. Denn das Jungtalent hinter Sohn Michaels Figur ist nur bedingt gut ausgesucht und wirkt über weite Strecken, als sei es am Drehort abgestellt und dort zurückgelassen worden. Norton rettet so manches, aber auch seine von der Krankheit gezeichneten Gesichtszüge geben nicht alles her. Und selbst wenn der Regisseur Uberto Loach hieße, ein Namensvetter bleibt ein Namensvetter.