Kino
 

Der Körper ist die Realität

d'Lëtzebuerger Land vom 03.06.2022

Ein Junge am Meeresufer, sonnendurchflutete Strandaufnahmen – ein Aufatmen, bevor die Finsternis einsetzt. Crimes of the Future, der neue Film des kanadischen Regisseurs David Cronenberg, ist in einer unklaren, postapokalyptischen Welt angesiedelt, in der es immer Nacht zu sein scheint. Die Häuser verfallen, die Büros sind heruntergekommen, Telekommunikation gibt es nicht mehr und die einzigen Bildschirme die noch genutzt werden, sind die von alten Fernsehern, die aus den 80er-Jahren zu stammen scheinen, auf denen es bezeichnenderweise heißt: „Der Körper ist die Realität.“ Weder Schmerz, noch generell körperliche Empfindungen gibt es mehr. Daraufhin müssen sich die Menschen selbst verstümmeln, um überhaupt noch etwas zu empfinden. Viggo Mortensen spielt Saul Tenser, der mit seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) eine extreme Form des „Body Art“ betreibt. Während ihrer Auftritte tätowiert und entfernt sie Organe aus Sauls Körper, die dort wie Krebsgeschwüre wuchern. Sein Körper gehorcht ihm immer weniger und er bedarf ausgeklügelter Instrumente, die wie äußere Organe aussehen, um schlafen und essen zu können. Saul und Caprice werden dann mit einem mysteriösen „Nationalen Organbüro“ konfrontiert, mit einer Polizeibrigade, einer Art „neuem Sittenregister“, oder noch mit Aktivisten, die eine Mutation fördern wollen, die es ermöglicht, Plastik zu verdauen und so von unserem Abfall zu leben.

Damit sollte Crimes of the Future ausreichend skizziert sein und vor diesem Hintergrund dürfte es dann auch kaum verwundern, dass die Filmfiguren sich eigentlich in einer Welt bewegen, die natürlich stark an David Cronenbergs Frühwerk erinnert. Da wie hier setzt er in der Ausgestaltung seines filmischen Raums auf die Reduktion: kaum Außenaufnahmen, keine Landschaftsbilder (mit Ausnahme der Anfangsszene am Strand), keine transparente Lokalisierung des Geschehens. Stattdessen setzt er auf geschlossene Räume, die Figuren bewegen sich in überschaubaren Innenräumen oder sehr beengten Gassen. Cronenberg greift oft auf Kameraschwenks zurück, um den Rhythmus der Erzählung auch in den räumlich begrenzten Schauplätzen nicht zu schleppend werden zu lassen.

Der 75-jährige kanadische Regisseur, der Literatur und Naturwissenschaften studiert hat, erschließt sich seine Filme nicht zuvorderst über die Form, sondern über den Inhalt. Man sollte deshalb nicht dem Trugschluss anheimfallen, den Begriff des „Body-Horrors“ bei Cronenberg als schaulustiges, ekelerregendes Spektakel im direkten Sinne, als Attraktionen des Horror-Genres, zu lesen. Gleichwohl ist der „Body-Horror“ eine Spielart aus Horrorfilm- und Science-Fiction-Elementen, die indes bei Cronenberg vielmehr für Bildmetaphern stehen, die philosophische Denkräume eröffnen. Dabei sind Leben, Tod und Existenz die zentralen Themen. In Crimes of the Future wird über eine mögliche utopische oder sogar anti-utopische Zukunft des Körpers reflektiert. Cronenbergs Kamerablick bekundet diese Faszination am menschlichen Körper in einer Gleitbewegung über die Oberflächen des Fleisches, das macht bereits die Titelsequenz allzu deutlich. Tatsächliche Schock- und Ekelmomente, etwa durch Blutexzesse, gestattet sich Cronenberg indes nicht. Es scheint beinahe so, als sei er sich der Radikalität und der Grenzüberschreitungen seiner Nachfolgerin Julia Ducournau bewusst, die zuletzt bei den Filmfestspielen in Cannes 2021 mit ihrem Film Titane für Furore sorgte. Man will meinen, er nehme sich hier fast in der Folge zurück. Was Cronenberg indes umtreibt, sind nach wie vor die Fragen, die sein Werk immer schon maßgeblich bestimmten: Was wird aus dem Körper, wenn er sich in einer entkörperlichten Welt befindet? Ist Technologie nicht als eine Extension des menschlichen Körpers zu begreifen?

Eine Rückkehr zu Cronenbergs Wurzeln ist Crimes of the Future denn insofern auch, als er im Gegensatz zu Filmen wie A History of Violence (2005), Eastern Promises (2007) oder noch die Jung-Freud-Fehde A Dangerous Method (2011), die narrativ viel konventioneller und transparenter angelegt sind, sein Publikum herausfordert und mehr Fragen stellt als Antworten gibt.

Marc Trappendreher
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