Das Bistum bemüht sich, Missbrauch in der Kirche aufzuklären und vorzubeugen. Allerdings ohne unabhängige Aufsicht

Beichte ohne Zeugen

d'Lëtzebuerger Land vom 05.04.2019

„Well ech einfach Angscht hat, wann ech mech irgendwéi géif wieren, dass irgendeppes géif geschéien ... woumat ech net eens géif ginn …“ Mit diesen Worten erklärte ein mittlerweile 22-Jähriger den Richtern, warum er sich als Minderjähriger nicht gegen die sexuellen Übergriffe eines (Ex-)Pastors gewehrt hatte. Der Fall des Belairer Geistlichen, der den damals 14-Jährigen 2008 auf einem Ausflug missbraucht hatte, ging durch die Presse. Experten bestätigten vor Gericht die Verzweiflung des jungen Manns, die bis heute andauere, den „posttraumatischen Schock mit Selbstmordgedanken“.

Der Fall ist in mehrerlei Hinsicht typisch dafür, wie Sexualtäter – nicht nur in der katholischen Kirche – vorgehen: Oft kennen sie ihr Opfer von Kindesbeinen an, besitzen sein Vertrauen, missbrauchen es und schüchtern es ein, in dem sie drohen, sollte es sich mitteilen, würde es eine Existenz ruinieren oder Freunde und Familie verlieren. Erst als sich der verstörte Teenager seinem Bruder anvertraute und dieser den Vater informierte, kam der vertuschte Missbrauch ans Tageslicht. Der Geistliche wurde 2018 von einem Berufungsgericht wegen der Vergewaltigung eines Minderjährigen zu sieben Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

Misshandlung, Missbrauch, Mobbing

Der Missbrauchsfall ist einer von 24 neu gemeldeten Vorfällen in den Reihen der katholischen Kirche. Das Erzbistum hatte im Herbst vergangenen Jahres angekündigt, neue Zahlen der kircheneigenen Kontaktstelle für Missbrauchsopfer, fir-iech-do@cathol.lu, zu veröffentlichen. Ende Februar, anlässlich des mehrtägigen Krisengipfels im Vatikan zum Kindesmissbrauch, zu dem Papst Franziskus alle Spitzen der Bischofskonferenzen der Welt eingeladen hatte, war es so weit. Vorgelegt hat das Bistum einen Bericht, der nüchterne Zahlen enthält. Demnach waren die meisten Opfer hierzulande zwischen sechs und zwölf Jahre alt, einige waren in ihren Teenagerjahren. Die Täter waren Ordensmänner und Priester, aber auch Ordensfrauen. Die Übergriffe geschahen im Kinderheim oder im Internat, in der Kirche, beim Pfarrer zuhause. Das Gros der in Luxemburg gemeldeten Übergriffe bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 1950 und 1980. So lange haben die mehrheitlich männlichen Betroffenen (17, weiblich 7) gebraucht, um darüber zu berichten, was ihnen zugestoßen ist.

Zu den drei Vorfällen der jüngeren Vergangenheit (zwischen 2010 und 2018) zählt besagte Vergewaltigung eines Minderjährigen, zwei weitere betreffen Erwachsene. Um welche Art von Übergriffen es sich handelte, bleibt unklar. Der Bericht unterscheidet in drei „Kontaktmotive“: sexuelle Gewalt, psychische Gewalt und emotionale Misshandlung. Auf Land-Nachfrage erläutert die katholische Präventionsbeauftragte und Autorin der Studie, Martine Jungers, emotionale Gewalt sei das Runtermachen und systematische Schlechtreden, physische Gewalt umfasse vor allem Schläge, sexuelle Gewalt wiederum alles von ungewollten Berührungen, exhibitionistischen Handlungen bis hin zur Vergewaltigung. Wie oft schwere Misshandlungen und Missbrauch vorkamen, schlüsselt die Statistik nicht auf. Auch nicht, wie lange die Übergriffe andauerten. Die Kontaktstelle geht neben den gemeldeten Fällen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Wo sind die Opfer?

Überhaupt ist aufschlussreich, was der Bericht eben nicht erfasst und auch nicht aufklärt. Anders als beim Abschlussbericht 2010, für den der damalige Koordinator Mill Majerus und seine Frau und Mitautorin Simone Majerus-Schmit bemüht waren, Betroffene zu Wort kommen zu lassen und deren Zeugenaussagen im Bericht zu zitieren, um auf das Ausmaß der erlittenen Qualen aufmerksam zu machen, verschwinden die persönlichen Geschichten 2019 hinter anonymen nackten Zahlen. Dahinter stehe keine Absicht; es sei nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft anonymisierte Informationen zu den Leidensgeschichten veröffentlicht würden, sagt Leo Wagener, seit vier Jahren Generalvikar der Erzdiözese Luxemburg, auf Land-Nachfrage. Man habe die Zahlen in erster Linie mit Blick auf den Gipfel in Rom zusammengestellt.

„Als Repräsentant der katholischen Kirche möchte ich mich von ganzem Herzen entschuldigen“, hatte Erzbischof Jean-Claude Hollerich zu Beginn der Vorstellung der jüngsten Zahlen am 28. Februar gesagt. Da war er gerade zurück von der Anti-Missbrauchskonferenz, die Papst Franziskus vor dem Hintergrund anhaltender Skandale um immer neue Verdachtsfälle von schwerem Kindesmissbrauch durch katholische Geistliche und systematisches Vertuschen der Taten durch ranghohe Kirchenvertreter einberufen hatte. „Ich konnte das Leid der Opfer spüren“, schilderte Erzbischof Hollerich. Auch mit Betroffenen aus Luxemburg hat er gesprochen. Es ist das zweite Mal, dass sich der Erzbischof stellvertretend für die Institution Kirche bei ihnen entschuldigt.

Und dennoch waren und sind die Betroffenen hierzulande, von dem gerichtlich verhandelten Fall abgesehen, auffällig abwesend. Es gibt hierzulande keine Opferverbände wie den Eckigen Tisch in Deutschland oder La parole libérée in Frankreich, die Erlebnisse offen erzählen, ihre Rechte einklagen und politisch Druck machen. Als in Luxemburg 2009 die ersten Verdachtsfälle publik wurden, gründete sich eine Interessensgemeinschaft, die Association de défense des intérêts des victimes d’abus sexuels et/ou physiques de la part de l’Église catholique. Sie scheint es nicht mehr zu geben. Das Land hat versucht, ihren damaligen Präsidenten zu kontaktieren, ohne Erfolg.

Aufarbeitung ohne Aufsicht

Damit bleibt die Aufarbeitung in Luxemburg weitgehend dem Bistum überlassen. Es gibt keine/n externen Missbrauchsbeauftragten, keine unabhängige Kommission, die die Aufklärungsversuche begleitet. Die Präventionsbeauftragte Jungers, die ebenso wie Pressesprecher Roger Nilles auf Nachfragen bereitwillig Auskunft gibt, ist vom Bistum ernannt und bezahlt. Ihr steht ein Beraterstab zur Seite, der sich aus einem Theologen, zwei Psychologen und einem Juristen zusammensetzt. Wie oft und warum sie zu Rate gezogen werden, und wie darüberhinaus jene Kommission von Laien entscheidet, ob ein Opfer für erlittenes Leid 5 000 Euro erhält oder nicht, bleibt für Außenstehende unklar. 15 Betroffene haben im neuen Zeitraum von dem Geldangebot Gebrauch gemacht. Reicht ihnen das? Ist damit ein Schlussstrich unter ihre Aufarbeitung und die der Kirche gezogen?

Im Internet kommentierten Stimmen nach der Veröffentlichung des Berichts empört: „5 000 Euro Entschädigung für Verbrechen mit lebenslangen Folgen“. Martine Jungers stellt indes klar: Es handle sich bei der Summe nicht um eine Entschädigung, sondern um eine „finanzielle Anerkennung erlittenen Leids und Unrechts“. „Wie will man Leid bemessen?“, fragt sie. Die Geldgabe praktizieren auch Bistümer jenseits der Grenze und sie führt dort zu ähnlicher Kritik. In Deutschland fordert der Betroffenenverband Eckiger Tisch einen Fonds unterm Dach der Deutschen Bischofskonferenz, in den die Bistümer einzahlen sollten. Über die Vergabe des Geldes soll ein von Laien besetztes Gremium entscheiden. Außerdem verlangen sie eine „angemessene finanzielle Entschädigung“. Hierzulande scheint das keine Forderung zu sein.

Missbrauch nicht nur in der Kirche

Das liegt aber nicht nur daran, dass sich im kleinen Luxemburg Missbrauchsopfer wohl noch schwerer damit tun, sich zu erkennen zu geben und sich zu organisieren, als es ohnehin der Fall ist. Es fehlt an gesellschaftlicher Unterstützung und an (politisch gefördertem) Aufklärungswillen. Sexuelle Gewalt in Institutionen, nicht nur in der Kirche, auch in (para)staatlichen Kinderheimen, in Sportvereinen und in der Familie, ist immer noch ein Tabu. Obwohl längst erwiesen ist, dass früher in vielen ehemals kirchlich, mittlerweile staatlich oder parastaatlich geführten Einrichtungen ein autoritäres Klima der Angst herrschte, wo Kinder unterdrückt und ausgenutzt wurden, gibt es bis heute keine unabhängige Untersuchung darüber, wie weit institutioneller Missbrauch und Misshandlungen reichten, welche Lehren daraus zu ziehen und welche Vorkehrungen für die Zukunft zu treffen sind. Ein Theaterstück der Regisseurin Carole Lorang befasste sich ansatzweise mit Gewalt in Heimen, darin kamen auch Betroffene zu Wort; doch eine systematische umfassende Aufarbeitung fehlt weiterhin.

Auch die Medien, deren Aufgabe es sein sollte, Licht ins Dunkel zu bringen, haben diesbezüglich nicht viel vorzuweisen. Die wenigen Berichte beziehen sich auf längst Vergangenes oder auf Fälle, die vor der Justiz landeten. Eigene Recherchen gibt es kaum. Kirchenakten zu mutmaßlichen TäterInnen sind unter Verschluss, bisher hat keinE WissenschaftlerIn, kein Journalist und wohl auch kein Opfer diese Akten je eingesehen. Das Land sprach 2010 mit ehemaligen Heimkindern. Die Begegnungen waren auch möglich dank des inzwischen verstorbenen Koordinators der Anlaufstelle, der die Kontakte vermittelt hatte.

Die Vertreter des Bistums betonen, den Opfern zuzuhören und ihre Darstellungen bewusst nicht zu hinterfragen. Eigene Untersuchungen zu gemeldeten Vorfällen gebe es nicht. Aber auch über den Inhalt der Zeugenberichte, Details über Art und Umfang der Vorwürfe, den Verletzungen, Folgeerscheinungen des Missbrauchs und vor allem über Forderungen an die Verantwortlichen war nichts zu erfahren. Die einzigen, die auf der Pressekonferenz das Wort ergriffen, waren die Kirchenvertreter selbst. Und ein paar Journalisten.

Welche Taten haben konkrete kirchenrechtliche und/oder strafrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen, beziehungsweise hätten es müssen – wenn sie vor der Verjährung gemeldet oder entdeckt worden wären? Was sind oder waren die Folgen für die 30 Täterinnen und Täter, die im neuen Bericht genannt werden? Im Bericht von 2010 waren die Taten entweder verjährt oder die Täter/innen nicht (mehr) rechtlich zu belangen, weil sie tot waren oder ihre Taten vom Strafrecht nicht erfasst wurden. Man warte die Ergebnisse der Justiz ab, bevor kirchenrechtliche Schritte erfolgten, erklärt Generalvikar Leo Wagener die Vorgehensweise. Da der Kirchenrechtler derzeit im Urlaub sei, könne er keine Auskunft zu kirchenrechtlichen Fragen geben. Wagener hat sich wiederholt mit der Staatsanwaltschaft über Missbrauchsfälle ausgetauscht: „Da ist schon eine Transparenz.“ Im Falle des Belairer Ex-Pastors sei die kirchenrechtliche Prozedur im Gang. Das Bistum hatte den Fall selbst der Staatsanwaltschaft gemeldet, weil sich der Beschuldigte, nachdem er vom Vater des Opfers mit seinen Taten konfrontiert wurde, gegenüber seinem Arbeitgeber mitgeteilt hatte.

Mit der Anweisung, jeden begründeten Verdacht von sexuellem Missbrauch der Staatsanwaltschaft zu melden (aber unter Wahrung des Beichtgeheimnisses), geht die Erzdiözese Luxemburg in ihren 2015 erlassenen Leitlinien für den Umgang mit sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im kirchlichen Bereich weiter als die Vorgaben aus Rom: Ein Maßnahmenpaket aus drei Dokumenten – einem Erlass, einem Gesetz und einem Richtlinienkatalog–, das Papst Franziskus am 29. März veröffentlichte und die ab 1. Juni in Kraft treten sollen, sollen den Umgang mit Minderjährigen und Verdachtsfällen neu regeln. Erstmalig wird sexueller Missbrauch als eigener Straftatbestand im Vatikan etabliert, verurteilte Täter sollen von ihrem Posten entfernt werden – über 30 Jahre, nachdem erste massenhafte Missbrauchsfälle in den USA bekannt wurden.

Neue Leitlinien aus Rom

Künftig werden Übergriffe gegenüber Schutzbedürftigen im Vatikan als Offizialdelikte verfolgt, also auch ohne die Anzeige eines Geschädigten. Vatikanische Mitarbeiter sind verpflichtet, etwaige Vorkommnisse und Verdachtsfälle unverzüglich zu melden, wobei allerdings das Beichtgeheimnis geschützt bleibt. Was in dem Maßnahmenpaket ebenfalls fehlt, sind weiterführende Überlegungen zum Zölibat und zur katholischen Sexualmoral.

Das und die Tatsache, dass die Regeln nur im Vatikanstaat gelten, wird von Opferverbänden kritisiert: Ein männerbündischer „Korpsgeist“, die „Einzelbeichte als besonderer Risikoort“, eine homophobe konservative Sexualmoral trügen zur systematischen Vertuschung einer geradezu „endemischen Verbreitung von sexuellen Übergriffen durch Priester auf ihnen anvertraute Kinder und Jugendliche“ bei. Eine Verpflichtung für Klerikale weltweit, Verdachtsfälle umgehend der Staatsanwaltschaft zu melden, sieht der päpstliche Erlass aber nicht vor; 2001 hatte der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, der spätere Papst Benedikt XVI, dem Klerus empfohlen, Missbrauchsfälle den nationalen Strafbehörden zu melden. 2010 überarbeitete die Glaubenskongregation den Text und setzte die Verjährungspflicht für Missbrauch auf 20 Jahre herauf. Damit geht die Kirche weiter als das Luxemburger Recht: Laut Strafgesetzbuch können Minderjährige, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, ihre Peiniger noch bis zu zehn Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit anzeigen, das bedeutet bis zu ihrem vollendeten 28. Lebensjahr. Sie haben demnach vor dem weltlichen Gericht deutlich weniger Zeit, ihr oft von Angst und Scham geprägtes Schweigen zu brechen.

Prävention als Pflichtkurs

Das Luxemburger Bistum hat weitere Vorkehrungen getroffen, womit es versucht, Missbrauch wenn nicht zu verhindern, so doch einzudämmen: Seit 2011 müssen sich angehende Priester einem psychiatrischen Gutachten unterziehen und Präventionskurse besuchen, in denen sie über Hintergründe, Täterstrategien, juristische und psychologische Folgen von Missbrauch aufgeklärt werden. Seit 2017 gibt es die Schulungen verpflichtend für alle MitarbeiterInnen der Kirche, Klerikale ebenso wie Laien, seit 2018 auch für Ehrenamtliche; außerdem müssen MitarbeiterInnen ein um Jugendschutzaspekte erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Verheiratete unbescholtene Männer müssten ebenfalls den Präventionskurs besuchen, so Generalvikar Wagener.

Der von der deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie zufolge waren 5,1 Prozent der zölibatär lebenden Diözesepriester des Missbrauchs beschuldigt; von den hauptamtlichen Diakonen, die heiraten dürfen, nur ein Prozent. Auch heterosexuelle und nicht pädophile Männer missbrauchen minderjährige Jungen (und Mädchen). Dass die Ursache für Missbrauch nicht die sexuelle Orientierung ist, hatte eine Studie des John Jay College aus dem Jahre 2011 ergeben, die die katholische Bischofskonferenz in den USA angefordert hatte. Bei Missbrauch gehe es nicht um Sex, sondern um sexualisierte Gewalt, die durch Machtstrukturen begünstigt werde. Für den Psychotherapeuten, der den Jungen im Prozess gegen den Belairer Ex-Pastor begleitet hatte, steht daher fest: „Die katholische Kirche muss sich mit ihren männerdominierten, misogynen Strukturen auseinandersetzen. Sie bilden den Nährboden für Missbrauch.“

Ines Kurschat
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