Zu Beginn von Jean Eustaches La maman et la putain fragen sich Bernadette Lafont und Jean-Pierre Léauds Figuren, ob sie vielleicht ins Kino gehen sollten. Léaud schlägt die Zeitung auf und deklamiert pathetisch und überhöht die Inhaltsangabe von La classe operaia va in paradiso von Elio Petri, der 1972 die Palme d’Or gewann. Et merde. Er faltet die Zeitung wieder zusammen, knallt sich aufs Sofa und meint, man könne doch auch einfach fernschauen. Fast 50 Jahre später deklamiert die Maîtresse de cérémonie Virginie Efira bei der Eröffnungsfeier der Filmfestspiele von Cannes 2022, mit ähnlichem Pathos: “Le chemin de nos coeurs n’est pas celui des algorithmes.“
Die Filmfestspiele von Cannes, die sich immer wieder als der wichtigste Termin dieser Art profilieren, wurden am Dienstagabend eröffnet. Und feiern gleichzeitig 75. Jubiläum. Mit Verlaub, ein stattliches Alter. Nur die Filmmostra in Venedig ist älter. Im letzten Pandemie-freien Jahr 2019 begann #BongHive und der weltweite Siegeszug von Parasite. 2022, drei Jahr später, ist somit wieder alles quasi beim Alten. Und in vielerlei Hinsicht bleibt alles wie gehabt. Wobei, Pierre Lescure gibt nach acht Spielzeiten die Präsidentschaft ab. Aber ansonsten überrascht das Festival und sein Programm beim flüchtigen Vorbeigehen nicht. Covid war wohl keine Zäsur.
Aber vielleicht wünschten sich Lescure und Festivaldirektor Thierry Frémaux nicht nur eine Rückkehr in den Mai, sondern auch eine programmatische Rückkehr zum Altbewährten. Dardenne, Desplechin, Serebrennikow, Gray, Kore-eda, Mungiu, Östlund – die Abonnentensitze des Wettbewerbs wurden einmal wieder sehr hoch angesetzt. Die Dardenne-Brüder sind zum siebten Mal (!) mit von der Partie und wenn man einem Interview mit Jurypräsident Vincent Lindon im Monde zu viel Rechnung tragen würde – „J’aime les films qui racontent un état du monde“ – dann wäre die dritte Palme an die Belgier gar nicht so unrealistisch. Drei weitere Palme-d’Or-Gewinner sind ebenfalls mit von der Partie. Als kleine Überraschung bleibt, dass Regisseure Lukas Dhont (Girl) und Ali Abbasi (Border) mit ihren neuen Werken die Treppen hochgeschmissen wurden. Und Kelly Reichardt, die zwar auch seit gefühlten Ewigkeiten auf Jahresbestenlisten steht, und das nicht erst seit ihrem letzten Film First Cow. Aber auch sie darf sich dieses Jahr das erste Mal in ihrer Karriere über einen Slot im Wettbewerb freuen. Was den ewigen Frauenfeindlichkeits-Vorwurf gegenüber Cannes weniger hart ausfallen lässt, aber nicht aus dem Weg schafft. Bei den insgesamt 21 Wettbewerbsfilmen saßen weiterhin gerade mal fünf Frauen in den Regiestühlen.
Die Veränderungen sind allesamt kosmetischer Natur und wurden von der „com“ ausgearbeitet. Mit der großen und wichtigen Frage im Raum: Wie lotst man im Zeitalter von Streamingangeboten Menschen, vor allem junge Menschen, in den finsteren Kinosaal? Das Festival hat sogleich die passende Boomer-Antwort parat und nimmt TikTok als medialen Partner mit ins Boot. Auf einer riesigen Plakatwand gleich gegenüber vom Palais des festivals prangert eine Werbung des sozialen Netzwerks mit der Aufschrift ceci n’est pas un film, ceci une vidéo TikTok. Der fade Beigeschmack wird beim täglichen Vorbeigehen nicht weniger fad. Aber vielleicht kommt Tom Cruise als Retter der letzten Sekunde diesem Trend zuvor und grätscht die Leute wieder von der Couch und Netflix weg. Dieser hatte sich am Mittwoch während seiner Masterclass für die Kinoerfahrung stark gemacht.
Das Festival hatte vorab trotz grundsätzlicher Ansagen über die letzten Jahre versucht, Andrew Dominiks Marilyn MonroeBiopic Blonde zu ergattern. Es scheiterte aber am französischen Filmvertriebssystem, welches verbietet, Filme vor abgelaufenen 18 Monaten nach Kinostart im Fernsehen zu zeigen. Netflix dürfte dementsprechend den Film auch nicht in Frankreich auf dem Streamingdienst anbieten. Die Verhandlungen scheiterten. Es bleibt spannend, wenn Iris Knobloch im nächstem Jahr den Präsidentschaftsposten der Filmfestspiele übernehmen wird. Venedig hatte die letzten Jahre freie Hand, sich offen zu inszenieren, was neue Vertriebswege für Filme anging, und nahm mit Marriage Story, Roma und letztes Jahr The Power of the Dog Werke auf, die in der „awards season“ in aller Munde waren. Die Nomination von Knobloch war nicht unumstritten und war alles andere als basisdemokratisch durchgeboxt worden, aber wenn die Präsidentin der WarnerMedia von etlichen europäischen Staaten etwas angehen könnte, dann diese Diskussion, die an der Croisette bisweilen von romantisch-verschlossenen Gatekeepers geführt wurde. Ob Jean-Pierre Léaud aus Eustaches Maman heute wohl lieber das Smartphone anstarren und TikTok-Clips schauen würde, anstatt sich den letztjährigen Palme d’Or-Gewinnerfilm anzuschauen, steht wohl in den Sternen, die man am wolkenfreien Himmel in Cannes schön glitzern sieht.