Obwohl Spanien – wieder – sehr rigide Maßnahmen ergriffen hat, schnellten bereits lange vor der Rentrée die Zahlen nach oben, eine zweite Welle rollt früher als befürchtet, sogar das Militär wird zur Hilfe gerufen. Doch wieso ist das beliebte Urlaubsland wieder besonders betroffen?
Der langjährige Taz-Korrespondent in Madrid Reiner Wandler zeigt sich beim europäischen Vergleich ratlos: „Etwas läuft schief.“ Die Spanier würden Atemschutzmasken „wie sonst kaum eine Bevölkerung in Europa“ nutzen, seit Anfang August herrscht im öffentlichen Raum auch bei Sicherheitsabstand Maskenpflicht. Wenn der nicht einzuhalten ist, ist selbst Rauchen verboten. Überall stehen Desinfektionsmittel, die ständig genutzt werden. Und dennoch hat sich die Zahl der Neuinfizierten seit Anfang Juli verzehnfacht, liegt man im europaweiten Vergleich mit 189,6 Fällen pro 100 000 Einwohner (im täglichen Durchschnitt der beiden letzten Augustwochen) weit vor dem am zweit schwersten betroffenen Frankreich (70,9 Fällen). Das im März und April noch ähnlich heimgesuchte und sozial durchaus vergleichbare Italien hat die Pandemie mit 18,5 Fällen hingegen weitgehend unter Kontrolle.
Alberto García-Basteiro vom Institut für weltweite Gesundheit in Barcelona führt als Gründe für die zweite Welle an: „Wir bekämpfen die Pandemie weiterhin wenig koordiniert, haben zu wenig Personal für die Nachverfolgung und die familiären Zusammenkünfte, sowie das Nachtleben wurden nicht genügend eingeschränkt.“ Weiterhin vermutet er: “Wahrscheinlich sind wir ein Land mit engeren sozialen und familiären Kontakten als andere Länder. Und im Vergleich haben wir immer noch ziemlich viel Tourismus.“ Der Taz-Korrespondent stellte ähnliche Mutmaßungen an, fügte jedoch die „prekären Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft“ hinzu, da die ersten großen Herde im Juli von der Gemüse- und Obsternte ausgingen.
In Spanien fallen in privater Runde schnell die Masken. Oft zieren sie höchstens noch das Kinn, doch es zeigt sich auch ein bedenkliches Eigenbild. Bereits die strengsten Quarantänevorschriften aller demokratischen Länder hatten nahezu alle meine Freunde und Bekannte mit der spanischen „picaresca“ begründet. Selbst rigide und autoritäre Eingriffe in die eigenen Grundrechte während den ersten dramatischen Wochen hatten auch kritische Bürger damit befürwortet, „der spanische Schelm“ würde ansonsten jede Regelung umgehen und missachten.
Was mir alles zu simpel ist. Einerseits finden sich im „disziplinierteren Norden“ die größeren Ansammlungen von „Covidioten“. Und ich sehe auch nicht, dass in anderen Ländern in vergleichbaren privaten Situationen mehr auf Sicherheitsmaßnahmen geachtet würde als in dem noch immer geschockten Sonnenland mit seiner halben Million bestätigten Infizierten und knapp 30 000 Toten. Ebenso widersprechen die besseren Zahlen bei sanfteren Maßnahmen aus dem kaum weniger lebensfrohen Griechenland, Italien oder Portugal dieser These. Auch seiner populistischen Variante, dass alles Böse von außen komme, kontert die Statistik. Im Juli fand nur ein Viertel der üblichen Touristen den Weg nach Spanien. Vom 11. Mai bis 24. August wurde bei gerade einmal 1 370 (einreisenden) Touristen das Virus diagnostiziert. Das sind ähnlich viele wie in der aktuell wieder besonders hart getroffenen Region Madrid alleine am vergangenen Freitag.
In Luxemburg haben wir in letzter Zeit gelernt, dass selbst vermeintlich harte Zahlen Interpretationssache sind. Der Chef-Epidemiologe der spanischen Regierung, Fernando Simón, relativiert die Statistik. Zwar seien die aktuellen Durchschnittswerte (bei den Neuinfektionen, nicht den Intensivpatienten oder Toten!) bereits fast wieder auf den Höchstständen vom April, doch „mit den gleichen Testmöglichkeiten wie im April würden wir nur ein Siebtel oder Achtel entdecken. Statt knapp zehn Prozent entdecken wir nun 60 bis 70 Prozent der Infizierten.“ Während anfangs das Problem war, dass bei ungenügender Testkapazität das Virus in Spanien weitgehend unentdeckt wütete, ist heute der wahrscheinlich größte Fehler die mangelhafte Nachverfolgung. Was letztlich ein politischer Fehler ist.
In einer kritischen Analyse folgert Anton Losada in El Diario: „Nach sechs Monaten Kampf gegen Covid-19 beharren zu viele von unseren Verantwortlichen und Autoritäten darauf, wettzustreiten und sich gegenseitig zu beschuldigen statt das einzig Intelligente und Effiziente zu tun: zu kooperieren.“ Im Alarmzustand bis Ende Juni war die Verantwortung für das Gesundheitswesen und die Pandemiebekämpfung auf die Zentralregierung übergegangen. Nun sind wieder die Regionalregierungen am Zug, doch schiebt man sich vor allem den schwarzen Peter hin und her. Und auf kommunaler Ebene klagen die Gemeinden, dass ihnen die Mittel (und Budgetüberschreitungen) für die Virusbekämpfung verwehrt würden. Auf allen Ebenen fährt dabei die konservative ehemalige Regierungspartei Partido Popular einen knallharten Oppositionskurs. Obwohl sie im Brennpunkt Madrid die Regionalregierung stellt, kämpft man gegeneinander statt miteinander.
In einer tief gehenden Analyse klagt der Kollege bei El Diario Javier Pérez Royo an: „In der Bekämpfung des Covid-19 ist klar, dass Spanien als Land gescheitert ist.“ Was er auf die unbefriedigenden Autonomieregelungen und die Verfassung zurückführt. Die Minderheitsregierung hat das Problem durchaus erkannt und tut ihr Möglichstes. Kurzfristig stellt sie den Regionen sogar Militärpersonal für die Nachverfolgung zur Verfügung. Und überantwortet diesen die Verantwortung für neuerlich auszurufende, regionale Alarmzustände. Doch für manche tief liegende Probleme finden sich kurzfristig kaum Lösungen.
Das kaputtgesparte und teilweise privatisierte Gesundheits- und Alterspflegesystem bleibt in einem bedenklichen Zustand. Und Beispiele aus dem Madrider Gesundheitszentrum von Las Calesas mit dem spanischen Rekord von 1 162 Infizierten pro 100 000 Einwohnern zeigen, wie die Nachverfolgung an der Lebenswirklichkeit der besonders betroffenen ärmlichen Bevölkerungsschichten scheitert. Ein Verdachtsfall meint am Telefon, er könne unmöglich auf seine (Schwarz-)Arbeit verzichten. Ein positiver Fall fragt hingegen, wie Quarantäne funktionieren soll, wenn er mit seiner vier-köpfigen Familie in einem Zimmer einer WG lebt. Die Pandemie bringt Spanien sowieso gesundheitlich, aber auch politisch und gesellschaftlich an seine Belastungsgrenze. Und ein zweiter Lockdown wäre nach einhelliger Meinung wirtschaftlich nicht tragbar.