Seit Jahren verlagert die spanische Politik die Katalonienkrise auf die juristische Ebene. Mit jedem Urteil verschärft sich die Situation

Wenigstens Frustration zeigen

d'Lëtzebuerger Land vom 25.10.2019

Plötzlich war sie wieder da: diese positive, fröhliche Feststimmung von Tausenden Menschen unterschiedlichen Alters. Von Jugendlichen über Familien mit Kleinkindern bis hin zu rüstigen Rentnern. Quer durch alle politischen Richtungen von rechtskonservativ über liberal bis zu hin kommunistisch-marxistisch marschierten sie gemeinsam, durch die katalanische Sache geeint. Aus den Provinzhauptstädten Girona, Tarragona und Lleida sowie aus Vic und Berga waren am Mittwoch vergangener Woche kleinere Delegationen aufgebrochen, die von Kilometer zu Kilometer anschwollen und sich am Freitag in einem vom Generalstreik lahmgelegten Barcelona zu einer imposanten Großdemonstration von über einer halben Million Bürgern vereinigten.

Bei einem Zwischenstopp in Martorell am Donnerstag Abend wurden die Demonstranten von „In, Inde, Independencia“-Sprechchören empfangen. Auf Flöten wurden Revolutionslieder wie Bella Ciao abwechselnd mit traditionellen Hymnen angestimmt, freundliche Lokalpolizisten geleiteten die Kolonne auf einen Hinterhof, wo sie sich stärkten. Als der Marsch die wichtige Verkehrsachse A2 zwischen Barcelona und Lleida stundenlang lahm legte, gab es von den Autos und LKWs auf der Gegenspur öfter zustimmendes Hupen oder Beifall, und nur gelegentlich schallten Provokationen wie „Viva España, ihr Hurensöhne!“ über die Trennmauer.

Die große Mehrheit der Bevölkerung reagiert erstaunlich entspannt oder zustimmend auf die massiven Proteste in Katalonien, obwohl fast jeder von den täglichen kleineren und größeren Demonstrationen oder Blockaden des Straßen- und Zugverkehrs betroffen ist. Geschickt wählten die beiden Kulturorganisationen ANC und Òmnium den Slogan „Llibertat“ und verknüpfen die Forderung auf Freilassung der von ihnen als politische Gefangene bezeichneten katalanischen Politiker mit der Freiheit Kataloniens. Josep Tomàs vom ANC in Terrassa erklärt: „Die Referenz dieses Marsches ist Gandhis Salzmarsch. Wir folgen seiner Idee, um in Barcelona unsere Situation und die Ungerechtigkeit des Urteils des Obersten Gerichtshofs sichtbar zu machen.“ Gandhi, kleiner geht es in Katalonien gerade nicht.

Die größte Krise in Spaniens junger Demokratie begann im Juni 2010 mit einem umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts. Es verwarf Teile des neuen Autonomiestatuts, das der damalige Premier José Luis Zapatero versprochen hatte und das 2006 sowohl vom katalanischen und dem spanischen Parlament als auch von der katalanischen Bevölkerung mit Zwei-Drittel-Mehrheit gestimmt wurde. Einen Monat später demonstrierten in Barcelona über eine Million Menschen friedlich gegen dieses Urteil.

Seit 2012 schaffen es ANC und Òmnium jedes Jahr, am katalanischen Nationalfeiertag einige Hunderttausend Bürger für kreative Großdemonstrationen zu mobilisieren. Wie 2013 eine mehr als 400 Kilometer lange ununterbrochene Menschenkette quer durch die gesamte Region, oder ein Jahr später ein gigantisches „V“ aus bis zu zwei Millionen Menschen, also einem knappen Viertel der gesamten Bevölkerung Kataloniens, auf den beiden größten Prachtstraßen Barcelonas, Diagonal und Gran Vía.

Der ursprüngliche Kläger und ab 2011 spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy von der Partido Popular (PP) ließ sich aber nicht beeindrucken. Sein ebenfalls konservativer Gegenspieler aus der Region, Artur Mas, wechselte hingegen zum Separatismus, vor 2010 eine Randbewegung von weniger als einem Fünftel der Katalanen. Die böswillige, aber nicht unrealistische Lesart ist, dass mit ihrem eskalierenden Konflikt um Katalonien Rajoy wie Mas von ihrer Austeritätspolitik in der für Spanien besonders verhängnisvollen Wirtschaftskrise von 2008, sowie von den massiven und systematischen Korruptionsfällen in den eigenen Reihen ablenken konnten.

Der überzeugte Separatist Carles Puigdemont löste 2016 Mas ab. Obwohl es in der Bevölkerung keine klare Mehrheit für eine solche katalanische Unabhängigkeit gab, hatte seine Koalition vom Wähler den impliziten Auftrag für ein Unabhängigkeitsreferendum erhalten. Was im Herbst 2017 die Welt in Atem hielt und mit der Absetzung, Exilierung, beziehungsweise Inhaftierung der damaligen Regio-
nalregierung endete.

Zwei Jahre später bringt ein unmögliches Urteil eine weitere Eskalation. Unmöglich, da die Rechtslage unübersichtlich und die Positionen unversöhnlich waren, aber auch wegen einer ungeschickten PP. Aus strategischem Kalkül hielt ihr Staatsanwalt die Legende der Rebellion bis zum Ende aufrecht, da so die Gerichtsverhandlung vom zuständigen obersten katalanischen Gerichtshof an das übergeordnete Madrider Pendant wechselte. Dessen vorsitzenden Richter Manuel Marchena hatte der Senatsvorsitzende der PP Ignacio Cosidó jedoch als neutrale Institution verbrannt.

Marchenas Beförderung zum Präsidenten der wichtigen und wegen zu großer politischer Einflussnahme wiederholt von der Europäischen Kommission gerügten Berufungskommission der oberen Gerichte (Consejo General del Poder Judicial) hatte Cosidó im November 2018 triumphierend kommentiert, die PP würde mit Marchena die Zweite Strafkammer „durch die Hintertür kontrollieren“. Woraufhin Marchena sich zum Verzicht genötigt sah, doch dem Strafprozess zwischen der ehemaligen Rajoy-Regierung und der aufständischen katalanischen Regionalregierung saß er weiter vor. Die konservative Presse wirft Marchena nun vor, ohne den Vorwurf auf Rebellion und vorsätzliche Gewalt zu milde geurteilt zu haben, um sich vom Vorwurf der Parteilichkeit rein zu waschen. Die sehen die Separatisten angesichts der Verurteilungen zu neun bis 13 Jahren Haft als erwiesen an und sprechen von einem politischen Urteil.

Nach einer drôle de guerre seit den Verhaftungen hat die Krise in Katalonien sich auf diesen Urteilsspruch hin jedenfalls schlagartig zurückgemeldet. Die tagelangen gewalttätigen Zwischenfälle machen sie auch komplexer. Gleich am Montag hatte die ominöse neue Organisation Tsunami Democràtic zur Blockade der Flughäfen in Barcelona und Madrid aufgerufen, mit den Bildern aus Hong Kong als Vorbild und ersten medienwirksamen Kämpfen zwischen Ordnungskräften und Militanten als Ergebnis.

Die Regionalregierung von Quim Torra, die lange zögerte, die Gewalt klar zu verurteilen, sowie ANC und Òmnium scheitern jedoch daran, den gewalttätigen Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten und die Deutungshoheit über die Procés genannte Separatismusbewegung zurückzugewinnen. Dabei hatten sogar der zu 13 Jahren Haft verurteilte ehemalige Vizepräsident Oriol Junqueras sowie Jordi Sànchez und Jordi Cuixart als Präsidenten der Kulturoganisationen mit ihren neun Jahren Haft aus dem Gefängnis vergeblich zu unbedingter Friedfertigkeit aufgerufen und die Gewalt als kontraproduktiv gebrandmarkt.

Der angesehenen spanischen Internetzeitung
eldiarío.es erzählte ein 19-jähriger Student aus dem Viertel Sagrera: „Wir wuchsen mit dem Procés und dem 1-O auf“, was für das Referendum vom 1. Oktober 2007 steht. „Wir haben viele Jahre still gehalten, auf die Großen gehört, und wir haben ja gesehen, wo das hinführt: die sind alle im Knast.“ Obwohl friedlicher Protest nichts bringe, habe man sich lange den Normen des Procés gefügt, jetzt aber sei ein Tabu gebrochen. Eine ebenfalls um ihre Anonymität besorgte, vielleicht 20-Jährige Studentin der Humanwissenschaften an der Universität Pompeu Fabra gibt zu: „Wir wissen, dass wir mit dem Verbrennen von Mülltonnen keine Unabhängigkeit erreichen, aber friedlich ja auch nicht. Und so können wir der Welt wenigstens unsere Frustration zeigen.“

Unter den Störenfrieden finden sich neben jungen linken Separatisten und Anarchisten auch viele unpolitische Minderjährige, die einen Schub Adrenalin suchen. Tagelang zeigten sich die Ordnungskräfte von ihrer plötzlichen Gewalt überrascht und überfordert, knapp die Hälfte der rund 600 Verletzten sind Staatsdiener. Und die Separatismusbewegung konnte die Geister, die sie nicht direkt gerufen hatte, aber die doch zu ihr gehören, nicht in Zaum halten. Sogar ihr bisher militanstester Arm, die vor gut zwei Jahren entstandenen Comitès de Defensa de la República (CDR), die für viele der Verkehrsblockaden verantwortlich zeichnen, wurde von diesen Straßenkämpfen überrollt.

Selbst der Tsunami Democràtic hatte die montägliche Eskalation am Flughafen von Barcelona so wohl nicht geplant. Nach ersten Ausschreitungen eilten jedoch plötzlich katalanische Anarchisten und Chaoten zum Flughafen, wie mir maskierte Vertreter des „Baix Llobregat“-Arms zufrieden erklärten. Anarchisten und Systemgegner stellen dabei den erfahrenen Teil eines harten Kerns von rund 400 Randalierern. Die sich mit wenigen Tausend aktiven Unterstützern per anonymen Telegram-Diensten wie Anonymous Catalonia (203 000 Mitglieder), PicnicxRepública (38 700) und L’Alerta (41 900) koordinieren.

Nach dem Höhepunkt am Freitag mit stundenlangen schweren Ausschreitungen konnten CDR und ANC am Wochenende mit Menschenketten und Sitzblockaden Randalierer und Ordnungskräfte trennen und die Eskalation erst einmal brechen. Das gilt allerdings nicht für die politische Ebene. Hier herrscht wegen des Wahltermins 10. November Wahlkampf, und Katalonien ist nahezu ausschließliches Thema. Dabei treiben die drei rechten Parteien die regierenden Sozialdemokraten vor sich her. Die vergangenen Wahlen hatten gezeigt, dass der katalanische Separatismus in Rest-Spanien harte Parolen und zentralistische Parteien belohnt. Obwohl dieses Mal die katalanischen Mossos, Nationale Polizei und Guardia Civil reibungslos zusammenarbeiten, rufen PP, Ciudadanos und die rechtsextreme VOX Ministerpräsident Pedro Sánchez zum Wiedereinsetzen des Verfassungsartikels 155 und damit der Auflösung der katalanischen Autonomieregierung auf.

Wegen dieses Damoklesschwerts feuert der aktuelle katalanische Regionalpräsident Quim Torra seine Separatisten zwar weiter zu Protesten und zivilem Ungehorsam an, lässt aber gleichzeitig seine Mossos gegen eben diese Proteste entschieden vorgehen. In der aufgeheizten Stimmung nimmt Premier Sánchez nicht einmal mehr Telefonanrufe von Torra entgegen und traf sich bei einem sonntäglichen Kurzbesuch bei schwer verletzten Polizisten in Katalonien mit keinem einzigen Regionalpolitiker. Was ihm selbst im Krankenhaus Protestbekundungen des Pflegepersonals bescherte. Nach einer Woche Ruhe meldete sich der Tsunami Democràtic wieder. Einen Protestaufruf vor dem Gebäude des spanischen Innenministeriums begleitete er mit einem #SpainSitAndTalk. Dieser politische Dialog wird als Lösungsweg auch seit Jahren vom Ausland gefordert, und er wurde sogleich weltweit „Trending Topic“. Sollte die spanische Politik dem irgendwann folgen, wäre das in der Katalonienkrise tatsächlich eine – legale – Revolution.

Chrëscht Beneké
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