Drei Viertel der Spanier haben im Alltag Angst vor dem Coronavirus. Während die Bilder von unvorsichtigen Ballermann- und Strandtouristen die Einwohner nach der eigenen, harten Quarantäne und knapp 30 000 Toten empören, machen sie sich ebenso Sorgen, was das längst spürbare Ausbleiben der Touristenmassen für ihre gebeutelte Wirtschaft bedeutet.
Eine anonym gebliebene Expertenrunde hatte für die spanische Regierung einen vorsichtigen, dreistufigen und epidemiologisch sinnvollen Ausstiegsplan aus dem Alarmzustand vom 15. März erarbeitet. Doch Ende Juni brach dieser vorzeitig unter dem Druck der Realität zusammen: Es wurde für die linke Minderheitsregierung immer schwieriger, die nötige parlamentarische Mehrheit für die
jeweils zweiwöchige Verlängerung des Alarmzustandes zu organisieren. Und während Italien oder Frankreich ersten Sonnenliebhabern Avancen machten, blieben die spanischen Grenzen dicht. Allerdings „nur“ bis zum 21. Juni statt dem anfangs anvisierten 1. Juli. Spanien kann auf seine Tourismusindustrie nicht verzichten.
Dennoch sind die Zahlen des nationalen Statistikinstituts INE zum Juni dramatisch: 97,7 Prozent weniger Touristen brachten mit 133 Millionen sogar 98,6 Prozent weniger Euro ins Land als die 8,8 Millionen Spanienbesucher im Juni 2019.
Spanien steckt in einem Dilemma: Nach den dramatischen Bildern und Berichten aus den Krankenhäusern vom März und April und den erschreckenden Zahlen von insgesamt über 350 000 Infizierten, 100 000 davon in der wichtigsten Urlaubsregion Katalonien, und knapp 30 000 Toten hat ein großer Teil der Bevölkerung regelrechte Angst. Was das Aufflammen von immer neuen Infektionen – laut Gesundheitsministerium landesweit über 400 lokale Herde – im letzten Monat nur verstärkt. „Wir waren im Sommer noch jedes Jahr zwei Wochen am Meer, doch dieses Jahr geht es in eine abgelegene casa rural in die Berge“, erzählt Edu Ramirez, der sehr früh eines der längst ausgebuchten, abgelegenen Häuser auf dem Land buchte. Einige verschanzen sich sogar noch immer in den engen eigenen vier Wänden, während andere es genießen, dass zumindest unter der Woche die allermeisten Strände tagsüber ungewohnt leer bleiben. Alle aber begleitet ein ungutes Gefühl, denn rund 15 Prozent der Wirtschaftsleistung stammen aus dem nach dem Baugewerbe zweitwichtigsten Wirtschaftszweig Tourismus. Beim unmöglichen Spagat zwischen Abschottung und Tourismus finden in einer Umfrage der wichtigen Tageszeitung La Vanguardia 95 Prozent der Befragten, dass die Wirtschaft zu stark vom Tourismus abhänge.
Was aber kurzfristig nicht zu ändern ist, und Ángeles Chacón, verantwortlich für die Wirtschaft in der katalonischen Regionalregierung, warnt in der derzeitigen Lage: „Katalonien steht vor einem kritischen Sommer für den Tourismus. Unser Aufruf an die Zentralregierung erfolgt in roten, fluoreszierenden Großbuchstaben.“ Anfang Juli hatte ein großer Ausbruch unter den meist ausländischen Saisonarbeitern in den Obstplantagen rund um Lleida international Schlagzeilen gemacht. Die verhängte Quarantäne, sowie die mittlerweile permanente Maskenpflicht im Freien auch in den wichtigsten Ferienregionen Katalonien, Balearen und Kanaren sorgten dafür, dass die Buchungen abrupt einbrachen. Ein rigides Sicherheitskonzept und eine gut 38 Millionen Euro teure Werbekampagne der Regierung können dabei wenig gegen diese Schlagzeilen und Bilder von unbedarftem Feiern auf dem Ballermann oder ziemlich vollen Stränden ausrichten. An etlichen Orten der Costa Brava, Costa Dorada und sogar in den Pyrenäen läge die Auslastung jedoch bei gerade mal 15 Prozent, klagt Ángeles Chacón und fordert, dass die „ERTE“ für die Tourismusindustrie bis März 2021 verlängert werden. In Katalonien wären nämlich alleine ein Viertel dieser coronabedingten, temporären Arbeitslosengelder auf die Tourismusbranche zurückzuführen und eine Besserung sei kaum in Sicht.
Während einer Pressekonferenz übte sich der katalanische Regionalpräsident Quim Torra denn auch in dem unmöglichen Spagat: Erst forderte er seine Mitbürger auf, soziale Kontakte einzuschränken und zuhause zu bleiben. Und warb unmittelbar danach auf Englisch für seine Region als sichere Tourismusdestination; trotz oder gerade wegen Reisewarnungen in den drei wichtigsten Herkunftsländern Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Dabei hat die der Unabhängigkeit zugeneigte Regionalregierung zumindest in den ersten Wochen mit der anfangs für 17 Millionen Euro privat vergebenen Früherkennung und Nachverfolgung neuer Infizierter dramatisch versagt und liegt mit 10 899 Infektionen alleine in den letzten beiden Juliwochen bei knapp acht Millionen Einwohner/innen landesweit vorne, wie die konservative Hauptstadtpresse höhnt.
Die aktuelle Mobilisierung auch öffentlicher Kräfte kommt wohl zu spät. Jedenfalls um weiteren Schaden vom darbenden Tourismus abzuwenden. Die katalanischen und spanischen Klagen, dass die ausländischen Reisewarnungen nur durch den Wunsch bedingt seien, ihr Werben für Urlaub zuhause zu verstärken, klingt dabei wohlfeil. Schließlich setzt man selbst auch auf diese Strategie, um die Ausfälle durch ausländische Touristen zumindest zum Teil zu kompensieren.
Doch nicht nur Edu Ramirez verweigert sich: „All die Jahre waren wir Spanier den beliebtesten Urlaubsorten nicht gut genug, weil die Ausländer mehr Geld ausgeben. Auch wenn sie jetzt für uns ihre absurden Preise auf der Rambla gesenkt haben, werde ich dort keinen Espresso trinken.“ Die Renitenz ist aber auch aus einem anderen Grund verständlich: In der Zwickmühle zwischen gesundheitlichen Gefahren und dem Damoklesschwert einer schweren wirtschaftlichen Rezession – die spanische Zentralbank prognostiziert 15,1 Prozent Rückgang beim Bruttoinlandsprodukt und den Wegfall von bis zu 5,5 Millionen Arbeitsplätzen, 23,6 Prozent der Erwerbstätigen – optieren viele Spanier/innen für die eigenen vier Wände und billigere Ausflüge in der näheren Umgebung.