Es ist eine Einladung mit Symbolkraft: Walter Rosenkranz, neu gewählter Präsident des österreichischen Nationalrats und erster freiheitlicher Amtsinhaber, empfängt den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban im Parlament. Der neue österreichische Nationalratspräsident rollt damit als erste Amtshandlung einem Gesinnungsgenossen den Teppich aus, der demokratische Strukturen im Nachbarland ansägt, unverhohlen antisemitisch agiert und, wenngleich auch deren amtierender Ratsvorsitzender, die EU permanent in Frage stellt. Es sei nur ein Gebot der Höflichkeit, Orban zu empfangen, spielt Rosenkranz indessen die Einladung herunter, Orban habe sich sozusagen selbst eingeladen. Nach Wien kommt der ungarische Ministerpräsident auf Einladung der Schweizer Weltwoche zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Frieden in Europa“, zu der auch Deutschlands Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder erwartet wird. So kam es wohl, dass das Treffen in der Tat schon vor Rosenkranz’ Amtsantritt vereinbart und auch ein Gespräch mit Parteichef Herbert Kickl vereinbart war. Dennoch schafft Rosenkranz mit dem „Arbeitsgespräch“ im Parlament Fakten, die das neue Selbstbewusstsein der extremen Rechten in Österreich unterstreichen.
Das befürchtete, aber letztlich unerwartet starke Abschneiden der rechtspopulistischen Freiheitlichen bei den Nationalratswahlen in Österreich Ende September mischt die Karten neu im politischen Alltag der Republik. Präsident Alexander van der Bellen, der seit 2017 als krisenerprobtes Staatsoberhaupt so manche Klippen umschifft und in schwierigen Situationen staatsrechtlich ausgefeilte Lösungen gefunden hatte, hat bei der Regierungsbildung lange gelebte Gewohnheiten hintan gestellt. Entgegen den Usancen hat er nicht umgehend den Chef der stimmstärksten Partei, Herbert Kickl, mit der Regierungsbildung beauftragt, sondern diesen zunächst in Gespräche mit den Chefs der zweit- und drittstärksten Partei, Karl Nehammer für die konservative Volkspartei und Andreas Babler für die Sozialdemokraten, geschickt.
Die waren erwartbar verlaufen, hatten doch sowohl Nehammer als auch Babler im Wahlkampf angekündigt, mit einer FPÖ unter Chef und Kanzlerkandidat Kickl nicht koalieren zu wollen. Beide blieben auch nach der Wahl bei ihrer Haltung. Das Wahlergebnis macht jedoch eine Mehrheitsfindung ohne eine dieser Parteien nahezu unmöglich: Aus dem Urnengang Ende September waren die Rechtspopulisten als stimmstärkste Partei hervorgegangen. Mit 28,8 Prozent lag die FPÖ erkennbar vor der Kanzlerpartei ÖVP (26,3 Prozent) und den oppositionellen Sozialdemokraten, die mit 21,1 Prozent ihr bislang schlechtestes Ergebnis bei einer Parlamentswahl eingefahren hatten. Die Grünen, die in der Koalition mit der ÖVP aufgerieben wurden und Mühe hatten, ihre Erfolge in der Umwelt- und Klimapolitik sowie in der Justizpolitik sichtbar zu machen, rutschten auf 8,2 Prozent ab und wurden von den Neos überholt, die sich ihrem Wahlmotto folgend als „Reformkraft“ mit 9,1 Prozent behaupteten.
Um angesichts dieser Kräfteverhältnisse eine Regierungsbildung anzustoßen, dazu verließ das Staatsoberhaupt nun die gewohnten Pfade und beauftragte nach Kickls Ehrenrunde bei den Parteichefs den scheidenden und übergangsmäßig weiter amtierenden Kanzler Karl Nehammer, eine Mehrheit zu suchen. Seine Begründung ließ den besorgten Demokraten und genauen Kenner der Verfassung durchblicken, den van der Bellen in seiner Amtszeit schon mehrmals gezeigt hatte, vor allem aber den scharf und klar formulierenden Rhetoriker: „Herbert Kickl findet keinen Koalitionspartner, der ihn zum Bundeskanzler macht“, war van der Bellens Befund nach den Gesprächen der Parteichefs von FPÖ, ÖVP und SPÖ direkt und unter vier Augen.
„Mehrheitsfähig“ war dieser Tage aus dem Munde des Staatsoberhauptes öfter zu hören. In einer zehnminütigen Ansprache, in der er seine Entscheidung öffentlich erklärte, wies van der Bellen ausdrücklich darauf hin, dass eine Nationalratswahl kein Wettrennen sei, bei dem der Erste automatisch den Kanzler stellt.
Dabei steht van der Bellen durchaus vor dem Dilemma, den Mythos der Ausgegrenzten zu nähren, aus dem die Freiheitlichen ohnehin zu einem bedeutenden Teil ihre Anziehungskraft beziehen. Und das umso mehr, als in zwei Bundesländern in naher Zukunft Wahlen anstehen, bei denen die FPÖ aus dem Nimbus der „vom System betrogenen“ Kraft weiteren Gewinn schlagen könnte. Es gehe darum, eine „stabile, handlungsfähige und integre Regierung“ zu bilden, die eine verlässliche Mehrheit im Parlament hinter sich versammeln müsse. Tatsächlich gab es noch nie eine Situation in Österreich, in der sämtliche Parlamentsparteien vor wie auch nach dem Wahlsonntag explizit ausgeschlossen haben, mit einer Partei und deren Chef eine Koalition einzugehen; auch die Möglichkeit der parlamentarischen Zusammenarbeit mit wechselnden Mehrheiten in Sachfragen steht entsprechend in Zweifel. „Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, begründete van der Bellen vor diesem Hintergrund seinen Bruch mit den Usancen in der aktuellen politisch sensiblen Lage.
Dem Chef der Freiheitlichen, der sich im Wahlkampf zum „Volkskanzler“ in spe stilisierte und nicht nur in dieser Wortwahl erneut auf bekannte Art mit historischen Anspielungen kokettierte, richtete van der Bellen noch öffentlich aus: „Das Volk sind wir alle. Wir sind unterschiedlich. Daher wählen wir unterschiedliche Parteien. Und niemand kann alleine das ganze Volk für sich beanspruchen.“ Doch genauso problematisch scheint ein „Zurück in die Große Koalition“, war es doch gerade die lange Zeit der Koalitionsregierungen von ÖVP und SPÖ in verschiedenen Konstellationen, die den Aufstieg der Freiheitlichen als „Systemsprenger“ begünstigt hat.
Mit seinem vorsichtigen Agieren setzt der Bundespräsident Anstöße, die politischen Möglichkeiten auf der Suche nach Stabilität bei gleichzeitiger Entscheidungsfähigkeit neu auszuloten. Eine nächste Regierung steht vor großen Herausforderungen: Das Land ist wirtschaftlich zurückgefallen, die Inflation ist weiterhin höher als in den meisten anderen EU-Ländern, Konjunktur und Produktivität sinken. Zu einem nicht geringen Maß ist Österreich etwa auch vom Einbruch in der Autoindustrie betroffen, die Stimmung auf dem Arbeitsmarkt ist wenig hoffnungsfroh. In der Klimapolitik haben nur wenige strukturelle Maßnahmen nachhaltig die Weichen gestellt, andere Ansätze wurden auf Bonuszahlungen und Förderungen reduziert. Die Marketing- und umfragenorientierte Politik, die das Kabinett Kurz perfektionierte und die Regierung Nehammer in Teilen fortführte, hinterließ einen Stau an notwendigen Reformen. Angesichts dieser Herausforderungen bringen Medien und Polit-Experten unterschiedliche Modelle für eine künftige Regierung ins Spiel. Eine bereits einmal erprobte Expertenregierung oder eine Minderheitsregierung mit Experten in Schlüsselressorts sind nur zwei der Vorschläge. Ob Nehammer, der bislang eher als Verwalter denn als Gestalter der Verhältnisse in Erscheinung getreten ist, solch ungewöhnliche Schritte wagen könnte, wird eher bezweifelt.
Das Parlament jedenfalls behielt indessen die gewohnten Gepflogenheiten bei, die Mitglieder der Präsidiale entsprechend den Mehrheitsverhältnissen zu besetzen, was hieß: Der Vorsitz sollte an die FPÖ, die Stellvertretungen an ÖVP und SPÖ gehen. Trotz der Vorbehalte gegenüber Rosenkranz stimmte schließlich eine Mehrheit der Parlamentarier in der konstituierenden Sitzung für den Freiheitlichen, der nun mit dem langjährigen ÖVP-Mandatar Peter Haubner als zweitem und der langgedienten SPÖ-Abgeordneten Doris Bures als dritter Amtsinhaberin das Präsidium des Parlaments bildet.
Rosenkranz stand aufgrund seiner Mitgliedschaft in der schlagenden Burschenschaft Libertas immer wieder in der Kritik und „repräsentiert das deutschnational-akademische Kernmilieu der FPÖ“, wie es das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands formuliert. Auch wenn Rosenkranz die Einladung an Orban herunterspielt, schürt sie große Irritation: Der erste FPÖ-Politiker im zweithöchsten Amt des Staates trifft in seiner Funktion als erstes Gegenüber ausgerechnet den europäischen Politiker, der sein Land zum Inbegriff der illiberalen Demokratie umgestaltet hat und der unzweifelhaft einem autoritären Politikverständnis folgt. Gemeinsam mit seiner rechtsnationalen Partei Fidesz sitzt die FPÖ in der drittgrößten EU-Fraktion „Patrioten für Europa“. Die rechten Netzwerke haben mit dieser zweifelhaften österreichisch-ungarischen Freundschaft ein neues starkes Symbol bekommen.