1. Rucksack packen in Nostalgie
Vier Uhr morgens, stockdunkel. Leise verlässt die kleine Gruppe die Hütte, die Rucksäcke geschultert, die Schuhe geschnürt. In zügigem Schritt geht es voran. Langsam wird es hell. Fünf Stunden Aufstieg zum Großen Widderstein liegen vor der Gruppe, durch Wälder und über Almwiesen, am Ende über einen Klettersteig, wo der Gruppenführer die Jüngeren am Seil sichert. Am Gipfelkreuz in 2 533 Meter Höhe öffnet sich ein überwältigender Blick auf ein Meer an Fels, Gipfeln und Schneefeldern. Stille. Die Dreizehnjährige erlebt erstmals, was passionierte Bergsportler als „Gipfelglück“ beschreiben, will gar nicht mehr weg von diesem Ort der Unendlichkeit knapp unter dem Himmel. Doch der Gruppenführer drängt mit Blick auf am Horizont auftauchende Wolken zum Aufbruch. Die Gruppe erreicht die Hütte wieder, gerade rechtzeitig, bevor sich ein Gewitter entlädt. Very old school, das: Bergsteigen anno 1980, mit rotkariertem Hemd und Bundhose, Karte und Kompass.
2. Orientierung
Die Alpen gehören zu den touristisch am intensivsten genutzten Regionen weltweit. In Österreich spülten die Touristen 2023 nach Angaben des Wirtschafts-Forschungsinstitutes Wifo fast 30 Milliarden Euro in die Kassen der Urlaubsregionen – ein Anteil am BIP von 6,2 Prozent. Die Sommersaison wird immer wichtiger, 2023 vermeldete die Statistik Austria den Rekord von über 30 Millionen Nächtigungen zwischen Mai und Oktober. Der stärkste Magnet sind die Alpen, entsprechend sind Berg-
landschaften in der Österreich-Werbung ein omnipräsentes Motiv. Gerne wird die „unberührte Natur“ gezeigt; Berge, Wasserfall und Hütten sind tragende Motive der aktuellen Kampagne „Lebensgefühl“ Österreich. Dabei wird die Botschaft nicht nur in den stärksten Herkunftsländern gehört, allen voran Deutschland und die Niederlande. Als wichtigste neue Märkte stehen die arabischen Länder sowie Indien, Südkorea und Taiwan im Fokus.
3. Kleiner Abstecher auf die Plattform
Wo ein Markt, da eine Marke. Die nationale Tourismusorganisation Österreich Werbung weiß, wonach die Erholungssuchenden lechzen. „Die Marke ‚Urlaub in Österreich‘ bringt Österreichs Glanzpunkte zum Leuchten und stellt eine unvergleichliche Wirkung in Aussicht“, definiert die Österreich Werbung: „Durch einen Urlaub gelangt man wieder in Resonanz mit der Welt und kann sich nachhaltig neu (er)finden.“ Das Produkt Österreich-Urlaub macht auch online zunehmend Meter. „Als Österreich Werbung sprechen wir unsere Zielgruppe da an, wo sie sich aufhält – auch auf den großen Social-Media-Plattformen“, erklärt Manfred Huber von der Tourismusorganisation. Immerhin finden mittlerweile 40 Prozent der Gäste dort ihr Ziel.
4. Da kenn’ ich doch eine Abkürzung
Mountainbiker von rechts, Bergläufer von links, Paraglider von oben; Sportler in olympiaverdächtigem Tempo neben Familien mit Kindern, Luxusurlauber aus dem nahen Wellness-Chalet neben kanarienbunten Funktionskleidungsträgern, und überall dazwischen Hunde – wenn auch ein wenig überzeichnet: so manche Gipfelregion lässt eher an einen Vergnügungspark denken als dass die vielbesungene „unberührte Natur“ spürbar würde. In luftige Höhen zu kommen, kostet Kondition – oder ein Ticket. Die am schnellsten wachsenden Sommerdestinationen sind jene, die mit Bergbahnen erschlossen sind. Entsprechend sind auch die Gipfel, in deren Nähe spektakuläre Hochgebirgsstraßen und Seilbahnen die Gäste bringen, diejenigen mit dem höchsten Konfliktpotential, wenn Sportler in hochgebirgsgemäßer Ausrüstung auf Freizeitbesucher in Sommerkleidung treffen.
Ein Bergführer postete Anfang September die Aufnahme eines hoffnungsfrohen Gipfelstürmers am Fuße des Großglockners, der den höchsten Gipfel Österreichs in Turnschuhen und ohne weitere Ausrüstung erklimmen wollte. Am Zugang zur Zugspitze, an der Grenze Österreichs zu Deutschland, sorgen regelmäßig Bilder von Menschenschlangen für Kopfschütteln, die sich in Sandalen und ohne Sicherung auf dem Anstieg zum Gipfelkreuz drängeln, um schnell ein Selfie von oben zu schießen. Meldungen zu Bergrettungen begleiten entsprechend die ganze Sommersaison.
5. Hängepartie
Eine kurze Unaufmerksamkeit, ein Stolpern – im Hochgebirge wird das rasch gefährlich. Aus einem falschen Tritt wird schnell ein Bänderriss. Dann sind Menschen wie Kathrin Puelacher zur Stelle. Sie ist eine von rund 12 800 Bergrettern in Österreich. Allein in Tirol, dem größten Landesverband, sind über 4 600 Ersthelfer aktiv. Ehrenamtlich, in ihrer Freizeit, rücken sie aus, wenn andere am Berg in Not geraten. Die Einsätze werden mehr, resümiert die stellvertretende Landesleiterin, die im Zivilberuf Angestellte ist. 2023 wurden die Freiwilligen österreichweit zu 9 600 Einsätzen gerufen, allein in Tirol waren es 1 392 Einsätze von Juni bis August 2024, so viele wie noch nie.
Ob Selbstüberschätzung oder mangelnde Vorbereitung zu vermeidbaren Unfällen führen? Die Bergretterin bleibt diskret: Ein Viertel der Einsätze fällt auf Stürze; aber ob Schwindel, konditionelle Überforderung, mangelnde Trittsicherheit oder Erschöpfung der Auslöser war, wissen die Retter nicht. „Wir würden uns wünschen, dass die Menschen sich im Vorfeld informieren“, formuliert sie es positiv: „Da spielt vieles hinein: Kann ich eine Karte lesen oder folge ich nur einer Beschreibung im Netz? Weiß ich, worauf ich mich einlasse – in einer Umgebung, deren Charakteristika mir fremd sind?“ Legendär ist etwa ein Rettungseinsatz in Vorarlberg 2022: Lehrer einer deutschen Schülergruppe folgten dem Hinweis im Netz auf eine „nette Feierabendrunde“, ohne darauf zu achten, dass diese Beschreibung von einem erfahrenen und durchtrainierten Bergkenner kam. Am Ende mussten 90 überforderte, verängstigte und schlecht ausgerüstete Jugendliche von Hubschraubern aus einem Steilhang geborgen und ins Tal gebracht werden.
Basiswissen fehle mitunter, meint Puelacher, etwa die Binsenweisheit, dass es am Nachmittag oft zu Wärmegewittern kommt. Gut wäre auch die Reflexion, ob die eigenen Fähigkeiten ausreichen. Im Zweifel empfiehlt sie, einen Bergführer zu buchen, zumindest aber verlässliche Information vor Ort einzuholen: Vom Hüttenwirt, von der Touristeninformation oder Einheimischen. „Gerade in diesem Sommer haben wir gesehen, dass sich die Bedingungen rasch ändern können, durch vermehrte Felsstürze und Hangrutsche waren manche Wege nicht mehr begehbar.“
6. Gratwanderung
Die Faszination der Berge den Menschen zugänglich machen und die einzigartige Schönheit des Hochgebirges auch jenen näherbringen, die aus eigener Kraft nicht mobil genug sind – gleichzeitig Sicherheit gewährleisten und das Gleichgewicht der Natur bewahren: Die alpinen Vereine Österreichs kennen das Dilemma. Sie sind es auch, die einen großen Anteil der alpinen Wege betreuen. Allein der Alpenverein als größter Verband sorgt mit tausenden Freiwilligen dafür, dass insgesamt 52 455 Kilometer Wege, Pfade und Steige markiert und gesichert, nach Erdrutschen überprüft und saniert werden.
Im Hochgebirge macht sich der Klimawandel deutlich schneller bemerkbar als in tieferen Lagen: Gletscherschmelze, Hangrutschungen, Abbrüche haben Auswirkungen auf das Wegenetz und die Gefährlichkeit von Routen. Entsprechend verschärft sich der Zielkonflikt zwischen Tourismus und Naturschutz. „Die Devise heißt, fair zur Natur zu sein: also Outdoor-Sportarten umweltverträglich und rücksichtsvoll auszuüben und mit offenen Augen die Natur zu erleben“, halten die Naturfreunde fest. Der Alpenverein hat „den Erhalt der Ursprünglichkeit der Bergwelt“ in seinen Statuten als Grundaufgabe definiert. Klimastrategie, CO2-Neutralität, Wissen um ökosoziale Zusammenhänge und Schulungen unter dem Titel „RespektAmBerg“: Die Bemühungen um das richtige Verhalten am Berg und für ein konfliktfreies Miteinander der verschiedenen Gruppen untereinander, für Schutz der Natur und seiner Bewohner sind zahlreich.
7. Abstieg
So mahnen Vorschläge für Genusswandern und nachhaltiges Naturerleben in Bergsteigerdörfern an Zurückhaltung und Demut gegenüber der Natur, während andernorts Luxuschalets aus dem Boden sprießen wie im Zillertal oder etwa in der steirischen Ramsau, wo ein heftiger Konflikt um Grundstückspreise und Nutzungsrechte die Idylle trübt. Angebote wie Ferienkarten mit freiem Zugang zu Bergbahnen und Naturerlebnisparks befeuern eine den Bergdestinationen lange fremdgebliebene All-In-Mentalität und verstärken den Trend hin zum Massentourismus.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Aktivitäten in alpiner Natur kostenlos und jederzeit zugänglich seien, könnte an ihre Grenzen stoßen, meint etwa der Tourismus- und Freizeitforscher Andreas Reiter gegenüber der überregionalen Kleinen Zeitung. Er kann sich beispielsweise die Einrichtung von kostenpflichtigen „Premium-Wanderwegen“ vorstellen. Naturerlebnis gegen den Einwurf von Kleingeld – eine mögliche Zukunftsvision, auch wenn das, wie er einräumt, „natürlich alles andere als ein demokratischer Zugang“ ist.