Othmar Karas, langjähriger Abgeordneter und überzeugter Europäer, machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung: Die österreichische Volkspartei sei „nicht mehr die Europapartei“, die er über viele Jahre mitgestaltet habe. Mit seiner Ankündigung, sich nach 25 Jahren im Europaparlament zurückzuziehen und nicht mehr für „seine“ Volkspartei zu kandidieren, hatte er im Oktober des Vorjahres mit einem Paukenschlag einen Wahlkampf eröffnet, der gute sechs Monate später dennoch nur stockend in Fahrt kommt. Karas galt vielen als das „europäische Gewissen“ einer Volkspartei, die den europäischen Gedanken im Sinne auch eines Friedensprojektes überzeugt lebte. Im Abgang ließ der langgediente Europa-Abgeordnete und zuletzt Erster Vizedirektor des Europäischen Parlaments wissen, dass er seine Haltung in der türkis eingefärbten Partei nicht mehr vertreten sieht.
Tatsächlich tut sich die österreichische Politik knapp 30 Jahre nach dem Beitritt des Landes schwer, Begeisterung für das gemeinsame Europa aufzubringen oder in der Wählerschaft zu wecken. Die Beteiligung an der Wahl zum Europäischen Parlament ist in Österreich traditionell gering und dümpelt bei Werten knapp über 40 Prozent. Nur bei der vorangegangenen Wahl 2019 stieg sie auf 56 Prozent, als im Zuge der Ibiza-Affäre mit der Auflösung der Regierung in Wien eine kurzfristig hoch politisierte Stimmung erzeugt wurde.
Die Eurobarometer-Umfrage des Europäischen Parlaments bestätigte im vergangenen Dezember die weithin gefühlte Geringschätzung der Union im Alpenland: Demnach bewerten in Österreich 22 Prozent der Befragten die EU-Mitgliedschaft als negativ, nur 42 Prozent können ihr etwas Positives abgewinnen. Mit dieser Einschätzung ist Österreich Schlusslicht unter den 27 Mitgliedstaaten – Spitzenreiter ist Luxemburg mit 86 Prozent positiven Bewertungen.
Die aktuell 19 Abgeordneten, die Österreich im EU-Parlament stellt, tun sich selbst schwer, die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu erklären: „Wir sind eine subsidiär geprägte Gesellschaft mit einem subsidiär geprägten Staat – wir sind skeptisch gegenüber zentralistischen Lösungen“, mutmaßt der EU-Abgeordnete Lukas Mandl von der ÖVP, die die größte österreichische Abgeordnetengruppe stellt. Die EU werde im politischen Diskurs überdies oft schlecht geredet. Auch Helmut Brandstätter, Abgeordneter der jungen liberalen Partei Neos im österreichischen Parlament und als deren außenpolitischer Sprecher nun selbst Spitzenkandidat für Straßburg, kritisiert die Darstellung der EU-Politik durch die eigene Zunft: „Wenn etwas gut läuft, dann ist es die heimische Politik. Wenn etwas unpopulär ist, dann ist es die EU.“
Die österreichischen Parteien und ihre Vertreter vor allem in den Ländern trügen durchaus ihr Schärflein bei, um die stets latent vorhandene EU-Skepsis am Köcheln zu halten, meint auch die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle – mit unterschiedlichen Stoßrichtungen: „Für die Linken sind es die Lobbyisten, für die Rechten die Zentralisten“. Es fehle auch die Information darüber, wo für Österreich die Vorteile der EU-Mitgliedschaft liegen – etwa, wo das Land wirtschaftlich profitiere oder wieviele und welche Aktivitäten beziehungsweise Projekte durch EU-Mittel unterstützt würden.
Weithin werde die Staatengemeinschaft mit Debatten um Gurkenkrümmung und anderen „Maßregelungen“ gleichgesetzt; einflussreiche Boulevardmedien stürzten sich auf solche Themen. Zudem werde in den Schulen zu wenig Wissen über Funktionen, Mechanismen und Bedeutung der Union vermittelt.
Gemessen an den Wahlergebnissen jedenfalls profitieren jene am meisten von der EU, die am wenigsten hinter ihrer Idee stehen. Beginnend bei Jörg Haider haben sich in Österreich die Freiheitlichen stets gegen die Union positioniert. Harald Vilimsky, der amtierende Delegationschef der Freiheitlichen Partei Österreichs im Europäischen Parlament, Ex-FPÖ-Generalsekretär und erneut blauer Spitzenkandidat bei der diesjährigen Wahl, führt diese Tradition fort und sorgte kürzlich mit einer spektakulären Trojaner-Aktion für Aufruhr: Zu einer Plenarsitzung in Straßburg reiste Vilimsky mit einer Besuchergruppe aus Österreich an, deren Mitglieder für Medien der rechtsextremen und identitären Szene tätig sind. Sie beobachteten sowohl Abgeordnete und akkreditierte Journalisten vor Ort, filmten ihre Aktivitäten mit und verwerteten das Material, um die Arbeit der Akkreditierten in ihren österreichischen Medien schließlich als Werk von „Systempresse-Journalisten“ zu diffamieren. Vilimskys Delegation ist in der rechten Fraktion Identität und Demokratie zuhause und strebt einen Zusammenschluss der Rechtsparteien im Europaparlament unter einem Dach an. Als Vilimsky im Januar erneut zum Spitzenkandidat seiner Partei benannt wurde, sagte der der österreichischen Nachrichtenagentur APA, man müsse nicht in allen Punkten einig sein, um eine Zusammenarbeit anzustreben. Den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán sah er als möglichen Nachfolger des Ständigen Ratspräsidenten Charles Michel, der zu dem Zeitpunkt seinen Rücktritt erwogen hatte.
Da sieht selbst der Spitzenkandidat der konservativen Volkspartei, Reinhold Lopatka, eine Gefahr von rechts und eine „Unheilige Allianz“: „Wir müssen hellhörig sein und es muss klar von allen anderen Parteien gesagt werden, dass eine Stimme für die FPÖ verloren ist“, erklärte Lopatka in einem Gespräch zur EU-Wahl, während seine eigene Partei im Inland mit ebendieser FPÖ auf Länderebene in Koalitionen zusammenarbeitet und auch im laufenden Wahlkampf zum österreichischen Nationalrat viele Optionen offen lässt. Auf EU-Ebene hält Lopatka die Kritik am rechtsextremen Mitbewerber hoch: Von rechts würden die Errungenschaften der EU und des Binnenmarktes oder der gemeinsame Fortschritt in Zukunftsfragen wie Klimaschutz in Frage gestellt: „Es geht um unseren Wohlstand, um Standards und ein Lebensmodell.“
Überzeugt europäisch gehen es neben den Neos auch die Grünen an. Sie schicken die 23-jährige Lena Schilling als Spitzenkandidatin ins Rennen, die als Gesicht der Klimabewegung und als Aktivistin gegen den Wiener Lobautunnel, ein Straßenbauprojekt in einem wichtigen Naturschutzgebiet, bekannt wurde – eine der größten Öko-Protestbewegungen Österreichs. Die SPÖ verlässt sich einmal mehr auf den langjährigen EU-Parlamentarier Andreas Schieder, der zwar 2019 das historisch schlechteste Ergebnis seiner Partei bei einer Europawahl einfuhr, aber als versierter Sachpolitiker und EU-Routinier gilt.
Abgesehen von der Kür der Spitzenkandidaten ist von EU-Wahlkampf in Österreich jedoch noch nicht viel zu spüren. Der Urnengang zum Europaparlament ist nur eine von mehreren Wahlentscheidungen, die sowohl auf Länder- und Gemeindeebene als auch österreichweit die Weichen neu stellen können. In Salzburg hat die Kommunalwahl zuletzt die kommunistische Partei massiv zurück ins Spiel gebracht, in der Steiermark steht ebenfalls eine Landtagswahl an und im September wird der Nationalrat neu gewählt.
Zudem bestimmen heikle Themen das politische Tagesgeschäft: Die spektakuläre Pleite des Signa-Imperiums um den Tiroler René Benko, eine mögliche Spionageaffäre, die einen ehemaligen Agenten des damaligen österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung in Zusammenhang mit Tätigkeiten für Putins Russland und den gesuchten Wirecard-Gründer Jan Marsalek bringt, die Fortsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen sowie Gerichtsverfahren mit und im Umfeld von Ex-Kanzler Sebastian Kurz erbeben zusammen ein vielfach changierendes, trübes Bild von Politik. Darin erscheinen Korruption, Misswirtschaft, Eigennutz und Lügenkonstruktionen als Hauptelemente. Eine politische Reality-Serie in täglich neuen Fortsetzungen, der gegenüber die Aufmerksamkeit auf das EU-Parlament ins Defizit gerät.