Österreich

Zeit der Grundsätzlichkeit

d'Lëtzebuerger Land vom 16.06.2023

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die österreichische Sozialdemokratie kann ein Lied davon singen. Bereits das Zustandekommen des SPÖ-Parteitags Anfang Juni, überhaupt die Notwendigkeit dazu und vor allem die Umstände der Vorsitzwahl war die Summe einer Vielzahl einzelner Peinlichkeiten: Eine von Funktionären und Landespolitikern im Stich gelassene Parteichefin, Querschüsse aus den eigenen Reihen, eine zunächst durch fragwürdige Kandidaturen fast ad absurdum geführte Mitgliederbefragung, die in nahezu Pattstellung und mit dem Abschied der amtierenden Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner aus der Politik endete, schließlich eine Stichwahl: die Sozialdemokraten ließen auf dem Weg zu einer entscheidenden Weichenstellung kaum eine Flanke offen.

Dann noch die Blamage: Auf dem Parteitag in Linz wurde der falsche „Sieger“ gekürt und Hans-Peter Doskozil zum neuen Parteichef ausgerufen. Am Tag darauf war alles anders: Einem ORF-Journalisten waren Unstimmigkeiten bei der Gesamtzahl der Stimmen aufgefallen. Ein nochmaliges Nachforschen brachte dann zutage, dass die Ergebnisse, die in einem bereits mehrmals bei Abstimmungen erprobten Excel-Programm gezählt und ausgewertet worden waren, durch einen Formelfehler vertauscht worden waren. Nicht der burgenländische Landeshauptmann Doskozil, sondern Andreas Babler, langjähriger Bürgermeister der Gemeinde Traiskirchen in Niederösterreich, lag vorne.

Es hagelte Spott. Die Politszene ätzte: „Und die Partei will ein Land regieren?“ Die Satirezeitung tagespresse machte es kurz und vermeldete: „Our job is done“. Ein Discounter warb mit dem Slogan: „Auf unsere Auszählung können Sie sich verlassen“. Für den Doch-Nicht- und den Dann-Doch-Parteichef eine gleichermaßen heikle und undankbare Situation, für die an Krisen gewöhnte Partei als Gesamtes und ihre organisatorische Spitze ein Desaster und ein unbestreitbarer Tiefpunkt. Auch Kommentatoren, Beobachter, Funktionäre und alle, die Statements und Analysen zum (falschen) Ergebnis abgegeben hatten, mussten ihre Einschätzungen korrigieren. So schnell verwandelten sich Wahrheiten noch selten in Makulatur.

Die (vermeintliche) Wahl Doskozils war zunächst als „Vernunftentscheidung“ der Delegierten bewertet worden, die sich von der Frage hätten leiten lassen, welchem von beiden Kandidaten eher zuzutrauen wäre, die spätestens 2024 zu erwartende Nationalratswahl zu gewinnen. Und hier waren nicht allein die Persönlichkeit des Kandidaten, sondern auch mit ihm mögliche politische Konstellationen zu bewerten. Doskozil, der in der Migrationspolitik eine harte Haltung entwickelt hatte, hätten die Parteifreunde wohl eher zugetraut, die Rechten in Schach zu halten, mutmaßten einige Kommentatoren. „Doskozil ist unsere einzige Chance, einen Bundeskanzler Kickl zu verhindern“, hielt denn auch die Wochenzeitung Falter die Stimmung einer gewichtigen Fraktion am Parteitag fest.

Das (tatsächliche) Votum für Babler erscheint dem gegenüber als Entscheidung für Leidenschaft und fürs Grundsätzliche. In seiner Rede am Parteitag hatte der 50-jährige Niederösterreicher sein Herz links schlagen lassen und immer wieder auf sozialdemokratische Errungenschaften verwiesen, an den Gründungsauftrag erinnert, seinen eigenen Werdegang als Arbeiterkind inclusive Erfahrungen am Fließband einfließen lassen und das rote Selbstbewusstsein beschworen. Herzblut und Augenhöhe, Stolz und Würde: Emotionale Begriffe durchzogen seine 50-minütige Rede, in der er keinen Hehl aus einer klassenkämpferischen Grundhaltung machte.

„Sozialdemokratie heißt, von unten zu denken, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern“ oder „Wir sind keine Bittsteller“, „mehr Sozialdemokratie wagen“ oder gar „Träumer, das ist einfach ein anderes Wort für Sozialdemokratin oder Sozialdemokrat“ – mit solchen Ansagen und einem hoch emotionalen Duktus riss Babler, Identifikationsfigur der Linken in der Partei, entgegen dem ersten Anschein doch die Mehrheit der Delegierten auf seine Seite. Er betonte die Nähe zu den Gewerkschaften, „Seite an Seite“ habe man in der Vergangenheit viele Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung durchgesetzt. Und auch weiterhin müsse klar sein, dass die Menschen an den Gewinnen derer, für die sie arbeiten, beteiligt werden müssen.

Seit seiner Jugend in der Partei engagiert, blieb Babler der Weg in die bundespolitische Ebene lange verwehrt. Seinen Mitstreitern in der Sozialistischen Jugend ist er als belesener, diskussionsfreudiger Aktivist in Erinnerung, manchen auch als linker Besserwisser. Der ausgewiesene Kenner von Marx- und Lenin-Werken war einer jener jungen Kräfte, die sich in den 1990-er Jahren gegen die Umbenennung der Sozialistischen in die Sozialdemokratische Partei stemmten und sich auch gegen Versuche wehrte, die (weiterhin so genannte) Sozialistische Jugend auf einen neuen Kurs nach dem Modell Tony Blairs in Großbritannien oder Gerhard Schröders in Deutschland zu bringen.

Babler wurde stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Union der Sozialistischen Jugend, war im Gemeinderat seiner Heimatstadt Traiskirchen tätig, wurde Stadtrat und 2014 schließlich Bürgermeister der Stadt, in der sich Österreichs größtes Erstaufnahmezentrum befindet. Österreichweit bekannt wurde Babler, als er in der Flüchtlingskrise 2015/16 Missstände bei der Unterbringung von Flüchtlingen anprangerte und sich unmissverständlich hinter die Menschen stellte.

In der SPÖ steht er nun vor mehreren schwierigen Aufgaben. Er muss die Lager, die sich zuletzt immer weiter voneinander entfernt haben, wieder zusammenführen. Die Partei, die in den vergangenen Jahren nicht nur an Wählerzustimmung verlor, sondern auch mit finanziellen Problemen kämpfte, ist gespalten. Das interne Stimmungsbild beschreiben Insider als eine Gemengelage aus Ärger und Verwirrung, Wut und Enttäuschung. An Babler liegt es, Vorurteile und Fronten zwischen „Intellektuellen aus den Wiener Bobo-Vierteln“, „Apparatschiks“ und Pragmatikern aufzulösen – vor allem in Hinblick auf die Wahl von 2024.

Seine ersten Personalentscheidungen lassen erkennen, dass er die Linke in der Partei und die Frauen stärkt, aber auch die Hand zum Doskozil-Lager ausstreckt. Die wichtige Funktion der Klubleitung im Parlament übergibt er dem Kärntner Philip Kucher, der zu Doskozils Unterstützern zählte. Ihm beigestellt sind gleich zwei Stellvertreterinnen: Julia Herr, die aus der Sozialistischen Jugend kommt, sowie Eva Maria Holzleitner, ebenfalls mit SJ-Vergangenheit und amtierende Frauen-Vorsitzende der SPÖ. Auch Jan-Karl Krainer, der eine wichtige Rolle als Aufdecker in diversen Untersuchungsausschüssen hatte, hat SJ-Vergangenheit und komplettiert das Klubpräsidium. In die Geschäftsführung holte sich Babler ebenso prononcierte Linke mit tiefer Kenntnis der Parteistrukturen.

Bablers Amtstantritt war nicht von triumphalen Bildern vom Parteitag begleitet; er übernimmt Parteivorsitz und die Aufgabe, die Partei in die Zukunft zu führen, nicht aus einer Siegerpose heraus. Die Leidenschaft und die Überzeugungskraft, die er am Parteitag gezeigt hatte, wird er sich noch über eine lange Strecke im politischen Alltag erhalten müssen – und den Hang zum Grundsätzlichen.

Irmgard Rieger
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