Maria ist Mitte 50, hat traurige Augen, trägt dunkle Kleidung, Kopftuch. Bettelnd kauert sie am Ausgang einer Hamburger Kirche. „Alles Gute ta Familia. Nicio problemă. Alles Gute. Dankeschön“, sagt sie gebetsmühlenartig vor sich hin, während Andrei Schwartz’ Kamera die Beine der Vorbeigehenden filmt. Jemand wirft eine Münze in ihren Pappbecher. Auf dem Vorplatz stapeln sich abgesägte Tannenbäume. Es ist Nachweihnachtszeit. Maria wirft einen Blick in ihren Becher. Er klang etwas zu voll. Diskret lässt sie den Inhalt mit einer routinierten Bewegung in ihrer Jackentasche verschwinden.
Maria hat gelernt: Die Gesellschaft ist ein Spiel und Bettler haben darin stets bedürftig zu wirken. Deshalb versteckt Maria auch verlegen das Handy unter ihrem Schal, wenn die Nichte aus der rumänischen Heimat sich mal wieder über das Wohlergehen ihrer Tante erkundigen möchte.
Andrei Schwartz ist ein feiner Beobachter ungeschriebener Gesetze, sowie derer die ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Marias stille Anpassung kontrastiert mit der lebensbedrohlichen Selbstaufgabe, mit der Ehemann Tirloi (etwa gleichaltrig, mit Mütze und dunklem Vollbart) bis vor Kurzem noch zu kämpfen hatte. Seit vier Monaten ist er trocken, weiß Maria. „Wie ein Versager“ und „beschissen“ habe er sich anfangs als Bettler in Deutschland gefühlt, so Tirloi – er der in Rumänien früher, also im Sozialismus, in einer Zementfabrik gearbeitet habe.
Tatsächlich hat das Ceausescu-Regime die Roma mehr oder weniger zu ihrem „Glück“ gezwungen – verlangt, dass sie arbeiten und sesshaft würden. Längst war das aber nicht für die Mehrheit unter ihnen der Fall. Bis ins 19. Jahrhundert hinein haben Roma vor allem als Leibeigene auf Kloster- und Bauernhöfen gearbeitet. Im Sozialismus galten sie zwar als soziale Unterschicht, durften aber arbeiten. Nach der Ceausescu-Diktatur wurde die Wirtschaft liberalisiert, die Kolchosen aufgelöst und die Agrarflächen rückerstattet. Die Roma gingen wieder einmal leer aus, wie Andrei Schwartz dem Land gegenüber erklärt. Er hüte sich deswegen davor, die Sowjet-Nostalgie dieser Menschen zu bewerten. Demokratie sei auch ein Luxus.
Dass besonders für Roma der Tod bisweile dramatisch nah am Leben entlangläuft, hatte Schwartz bereits eindrücklich in Auf der Kippe (1997), einem seiner früheren Dokumentarfilme gezeigt. Liebevoll und zugleich schonungslos schildert er darin das Leben von Roma-Kindern auf einer Müllhalde namens Dallas. Schwartz fühlte sich an seine Bukarester Kindheit Anfang der 60-er Jahre erinnert. Bereits damals hatte es in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung solch eine Müllhalde gegeben, auf der Menschen zu leben schienen. „Damals müssen die Zigeuner für uns so etwas gewesen sein, wie die Ghettojuden für die Polen“, sagt die Stimme im Off. „Man hielt sich so gut es ging von ihnen fern – wegen des Ungeziefers.“
Schwartz wuchs als Sohn von Holocaust-Überlebenden in einer Künstlerfamilie in Bukarest, Siegen und Bonn auf. Sein Vater, der Bildhauer Ladis Schwartz, und seine Mutter, die Malerin Odilia Grosu, hatten dank Kontakte im Ausland früh emigrieren können. Auf der Kippe war somit auch der Versuch, an Kindheitserinnerungen und darüber hinaus an die eigene Herkunft anzuknüpfen.
Für die Dokumentation Europa Passage (2022), die Schwartz vergangene Woche in den Rotondes anlässlich eines vom Kollektiv Solidaritéit mat den Heescherten organisierten Filmabends vorstellte, hat der deutsch-rumänische Filmemacher während fünf Jahren erneut eine Gruppe bettelnder Roma in Hamburg und bis in ihr Heimatdorf begleitet. Dabei herausgekommen ist ein Film, der nur auf den ersten Blick von Roma handelt.
„Was für ein hässlicher Bart“, meint Maria, von der zu Beginn die Rede war, später zu Tirlois Gesichtsbehaarung, der sich diese in ihrer Abwesenheit zugelegt hat. Während Maria nämlich regelmäßig ins heimatliche Dorf zurückkehrt und die Bettelei in Hamburg als notwendiges Übel betrachtet, möchte Tirlois in Deutschland bleiben. Dabei habe sie ihm doch in ihrer Holzbaracke im Dorf ein Badezimmer bauen lassen, entgegnet Maria. Ja, meint dazu Tirloi halb ernst halb scherzhaft, „verprassen“ täte sie sein Geld. Immerhin wird er sich später, wenn auch fluchend, den Bart vor laufender Kamera abrasieren.
Am Ende sei es für ihn in erster Linie ein Film über ein Ehepaar geworden, meint dazu Andrei Schwartz, und darüber, „wie man sich auseinanderleben kann“. Auf keinen Fall sehe er sich als „Aktivist“. Und doch: Mit Europa Passage ist Schwartz ein Plädoyer für unsere gemeinsame Menschlichkeit gelungen und ein Stück weit auch ein Film über Emanzipation.
Als Tirloi schließlich eine Anstellung als Verkäufer beim Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt erhält und kurz darauf eine Wohnung anmietet, ändert sich sein Leben schlagartig. Verdutzt lässt er sich von der Vermieterin die Wohnung zeigen, küsst ihr überfordert zum Dank die Hand. Jetzt kocht ihm Maria Kohlrouladen in der hauseigenen Küche. Zwei Familienangehörige kommen vorbei, essen und bitten Tirloi ebenfalls um eine Stelle. Doch dieser gibt sich besorgt. Die Verkaufsplätze, die ihm zugeteilt werden, gehörten nicht zu den lukrativsten. Dann verlässt er die Wohnung.
Was der Film nicht zeigt, im Kontext Luxemburg aber besonders von Interesse ist: Die endemische Korruption in Rumänien und das Versäumnis, das Land vor seinem EU-Beitritt 2009 stärker an seine Pflichten gebunden zu haben. An die 1 636 Mal hätten die Luxemburger Behörden bis dato Strafanzeige gegen Roma erlassen, freilich um die Fälle nach bereits kurzer Zeit wieder zu schließen, bemerkte Guy Foetz, Mitbegründer des Kollektivs Solidaritéit mat den Heescherten und früherer linker Gemeinderat der Stadt Luxemburg, in seiner Einführung. Zwischen 2021 und 2024 habe es zudem immer wieder Anschuldigungen gegeben, die mit Fakten nicht zu belegen seien. Neben Charakterisierungen „à la Mackie Messer“, entbehre vor allem ein Aufruf, wie jüngst, sogenannten aggressiven Bettlern kein Geld zu geben, um nicht mafiöse „Banden“ im Hintergrund zu unterstützen, jeglicher Grundlage.
Jedenfalls machte Joachim Brenner, ebenfalls Gast des Kollektivs und Leiter des Förderverein Roma in Frankfurt, klar, dass er auch in 30 Jahren Tätigkeit für derartige Gerüchte keinerlei Bestätigungen hat finden können. Geschweige denn je dunkle Limousinen gesehen habe. Dem schließt sich Andrei Schwartz an. Vielmehr handele es sich um Familien und Verwandte, die gemeinsam verreisten um der „Perspektivlosigkeit“ zu entkommen und durch Betteln dafür zu sorgen, „dass es ihrer Familie besser geht und die Versorgung gewährleistet sei“.
Natürlich hätte die Politik leichtes Spiel und Versuche „Elend in Schuld umzudefinieren“ seien nicht neu, meint Brenner. So hätte man in der Vergangenheit etwa Roma ein Einkommen unterstellt, nur um ihnen die Sozialhilfen zu verweigern. Mit dem Thema ließe sich immer gut Politik machen. In Hamburg erzählt Schwartz, sei einer Frau, die bei einer Kontrolle 3 000 Euro bar bei sich trug, erst das Geld abgenommen und dann ein Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche aufgebrummt worden. Es ginge den Behörden klar darum die Roma zu vergraulen. Oft würden auch Einreiseverbote verhängt, falls die Menschen nicht anhand einer Quittung nachweisen könnten, zwischendurch in ihre Heimat zurückgekehrt zu sein. Vom Ordnungsamt seien auch Pässe konfisziert worden und in einigen Fällen sogar „beim Betteln erwischt“ darin eingetragen worden.
Unterdessen hilft das Förderwerk Roma jungen Menschen sich in der Bundesrepublik ein neues Leben aufzubauen. Ermutigend wäre es, so Brenner, wenn Jugendliche nach Frankfurt kämen, der Aufenthalt durch eine Arbeit (und sei es ein Minijob) abgesichert sei und so ein Mensch innerhalb von ein bis zwei Jahren die deutsche Sprache erlerne, alphabetisiert würde und sich beruflich orientiere: „Mit der richtigen Methodik und der Absicherung der sozialen Situation kann man sehr viel erreichen.“
Dass Gleiches breitflächig in naher Zukunft in Rumänien geschehen könnte, davon geht Brenner jedoch nicht aus. Dafür grenze das rumänische Schulsystem Arme zu sehr aus: „Menschen aus sozial desolaten Verhältnissen können nicht mit einer Mittelstandspädagogik oder einer elitären Pädagogik versorgt werden, sondern die Pädagogik hat sich an den sozialen Verhältnissen zu orientieren.“ Alles andere führe zu Bildungsabbrüchen. Oft genug habe er mit 40- und 50-jährigen Menschen zu tun, die „gerade einmal drei oder vier Schulbesuchsjahre vorweisen“. Brenner spricht von „generativen Erfahrungen von Schulabsentismus“. Vor Allem aber würden auch Fördergelder oft nicht entsprechend verteilt. Das bestätigt Andrei Schwartz, der zwar sehr wohl von Programmen zur sozialen Wiedereingliederung gehört habe, davon bisher aber „nur wenig“ gesehen hat.
Gemessen an diesen Zuständen, täte die Politik gut die Roma-Frage endlich auf die europäische Tagesordnung zu heben. Stattdessen macht sie sich mit demagogischen Spielchen mitschuldig an der Ausgrenzung von Europas größter Minderheit.