Der sechste Teil der Serie befasst sich wieder mit Tänzerinnen. Das ist nicht ungewöhnlich, denn ungefähr die Hälfte der überseeischen Migrantinnen arbeitete im Showbusiness. Claudine Sortet und Jeanne Vieslet waren beide Töchter belgischer Beamter. Ihre Mütter waren Kongolesinnen. Beide wurden im Freistaat Kongo geboren, der bereits damals aufgrund der schrecklichen Gräueltaten traurige Berühmtheit erlangte. Die Quellen bieten nur spärliche Informationen über sie, jedoch lässt sich im Archive National de Luxembourg ein handgeschriebener Brief von Claudine Sortet finden, der im Folgenden wiedergegeben wird.1
Claudine Sortet (1905 Katola/Kongo)
Charleroi, 23. Februar 1936
An den Generalstaatsanwalt des Großherzogtums Luxemburg
[…] Bis zum Februar 1935 war ich im Tanzlokal „Perroquet“ angestellt und sah mich aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, alle Arbeit einzustellen und mich einer Operation in einer Klinik zu unterziehen. Ich weiß, dass es Gerüchte darüber gibt, dass ich an einer ansteckenden Krankheit leide. Ich bin Ausländerin, Herr Staatsanwalt, und leider habe ich viel Eifersucht geweckt. Aber es wird Ihnen leichtfallen, diese Verleumdungen zu widerlegen, wenn Sie sich an die Ärzte Jones und Pauly aus Luxemburg wenden. Was die Ausübung der Prostitution betrifft, so verteidigt mich nicht nur mein gesundheitlicher Zustand, ich habe auch keine Neigung dazu, meinen Lebensunterhalt auf diese Weise zu verdienen. Außerdem habe ich eine Familie und möchte nicht, dass sie sich meiner schämen.
Stellen Sie sich meine Überraschung vor, Herr Staatsanwalt, als ich das letzte Mal in Luxemburg war und erfuhr, dass ich aus dem Hoheitsgebiet ausgewiesen wurde. Vielleicht bin ich vorgeladen worden? Da ich jedoch nach Verlassen der Klinik in mein Land zurückgekehrt bin, konnte ich der Vorladung, von der ich überhaupt nichts wusste, nicht beiwohnen. Meine Abwesenheit ist sicherlich der Grund für diesen Beschluss, denn durch meine Erklärungen und die von mir vorgelegten Beweise wäre er sicher verhindert worden. […]
Nun muss ich unbedingt nach Luxemburg zurückkehren, um mich dort dem zweiten Teil meiner Operation zu unterziehen, die von den Ärzten Ihres Landes bereits begonnen wurde.
Darum bitte ich Sie im Namen der Menschlichkeit um Ihre Erlaubnis, in Luxemburg bleiben zu dürfen, wenn auch nicht frei, so doch zumindest für die Zeit der Operation und die der damit verbundenen Pflege.
Ich wage zu hoffen, dass Sie angesichts der Tatsachen, die ich Ihnen gerade erläutert habe, positiv auf meine Bitte antworten.
Gestatten Sie mir in der Zwischenzeit, Herr Staatsanwalt, Ihnen meinen tiefsten Respekt zuzusichern.
Ménagères und „Frauenspersonen leichter Sitten“
Die Autorin des Briefes, Claudine Sortet, wurde 1905 als Tochter des belgischen Beamten Jean Sortet und der Kongolesin Yaya geboren. Ihr Vater ging 1897 in den Kongo. Mehr ist über ihn und seine Beziehung zu Yaya oder Claudine nicht bekannt. Auch darüber, wann und warum Claudine nach Belgien ging, finden sich in den Quellen keine Hinweise. Sie erwähnen nur, dass Claudine spätestens ab 1925 dort lebte und ein Jahr später ihre Tochter Yolande gebar. Yolandes Vater bleibt namenlos, unterhielt sie jedoch zumindest eine Zeit lang. 1932 hielt sich Claudine das erste Mal in Luxemburg auf, vermutlich um als Tänzerin aufzutreten. Drei Jahre spärer tanzte sie im Perroquet. Aufgrund des Verdachts auf Prostitution wurde sie noch im selben Jahr ausgewiesen. Ihr eindringlicher Brief wurde allerdings erhört und Claudine durfte für die Dauer ihrer Behandlung erneut nach Luxemburg. Darüber hinaus eröffnen die Fremdendokumente nichts über sie oder ihre Krankheit.
Über Jeanne Vieslet (geb. 1900/Stanleyville), eine Tänzerin mit einer ähnlichen Geschichte, ist etwas mehr bekannt. Ihr Vater Albert war ebenso belgischer Offizier, ihre Mutter die Kongolesin Fanny Opango. Wie sich die beiden kennengelernt und welche Art von Beziehung sie miteinander hatten, bleibt unklar. Albert war bereits 1895 mit Beginn der Kolonisierung in den Kongo gegangen, eine Zeit, die von gewaltsamen Eroberungskriegen geprägt war. Außerdem war er am Kautschuk-
abbau, der schon damals aufgrund der damit in Zusammenhang stehenden Morde und Verstümmelungen als Kongogräuel angeprangert wurde, beteiligt. Diese allgegenwärtige Gewalt drückte sich auch auf sexueller Ebene aus. Da Jeanne aber Alberts anerkannte Tochter war, ist anzunehmen, dass Fanny und Albert ein längeres Verhältnis hatten, sie also seine ménagère war, wie kongolesische Frauen in solchen Beziehungen euphemistisch genannt wurden.2 Aus dieser Verbindung gingen wahrscheinlich zwei Kinder hervor. Wobei über Jeannes zwei Jahre älteres Geschwister nichts bekannt ist.
Spätestens 1913 heiratete Albert eine Belgierin. Während Alberts Frau und seine beiden kongolesischen Kinder in Belgien blieben, arbeitete er im Kongo und kam für sie auf. Bevor er 1917 im Kongo verstarb, bekam er noch ein drittes Kind mit einer Kongolesin. Über Jeannes kleinen Bruder ist leider auch nicht viel bekannt, außer dass er 1939 versuchte, einen Posten im Staatsdienst im Kongo zu bekommen.
Jeanne wurde spätestens 1906 von ihrem Vater nach Belgien gebracht. 1921 kam sie nach Luxemburg, um dort im Dancing Madrid im Bahnhofsviertel, wahrscheinlich als Mulatre Graziella, aufzutreten.3 Während ihres Engagements wohnte sie im Hotel Staar, einem recht eleganten Hotel. Das Madrid hingegen hatte, wie viele Dancings, einen schlechten Ruf, denn dort fanden immer wieder Raufereien und Diebstähle statt. Die Fremdenpolizei meinte 1921: „Die Tänzerinnen, die dann und wann Tänze aufführen, mischen sich unter die Gäste, animieren sie zum Zechen und steigen gewöhnlich nach Feierabend mit ihnen in die eigens hierzu hergerichteten Weinstuben. Eine ehrliche Frauensperson tritt als Tänzerin in diesem Lokal nicht auf […]; nur Frauenspersonen leichter Sitten fühlen sich hier heimisch und scheint die p. Vieslet eine solche Person zu sein, wie schon ihre auffällige Kleidung es vermuten lässt.“4 Als Schwarze Tänzerin repräsentierte Jeanne das absolute Gegenteil der imaginierten luxemburgischen Weiblichkeit, da gerade Afrikanerinnen ein unstillbarer Sexualtrieb zugeschrieben wurde. Somit wurde sie, wie ein Großteil der allein reisenden Ausländerinnen der Prostitution verdächtigt und ausgewiesen.5
Von 1938 findet sich ein Fremdenpolizeidokument über sie im belgischen Staatsarchiv.6 Dieses ist aus zwei Gründen seltsam: Erstens wegen seiner Existenz. Jeanne war Belgierin, was auch in dem Dokument mehrmals betont wird. Zweitens aufgrund des Inhalts. Es wird behauptet, sie wolle ein Bordell eröffnen, woraufhin ihr angeblicher Geschäftspartner, ein von der Polizei überwachter Belgier, meinte, dass er Angst vor ihr hätte, da sie Kokainschmugglerin sei. Meines Erachtens eine unglaubwürdige Aussage. Was mit ihr oder Claudine Sortet 1940 mit der Besatzung Belgiens durch die Nazis geschah, ob sie flohen, ausgewiesen wurden oder in ein Lager kamen, ist leider nicht bekannt.
Schwarze Europäer/innen existierten zwar seit Ewigkeiten, wie Otele in ihrem Buch African Europeans anschaulich beschreibt, jedoch sind gerade für die Zwischenkriegszeit besonders viele Schwarze Frauen in Erinnerung geblieben. So machten sich nicht nur Tänzerinnen, wie Josephine Baker, einen Namen, sondern auch die intellektuellen Nardal-Schwestern der Negritude-Bewegung.7 Die in der Zwischenkriegszeit in Luxemburg lebenden Schwarzen sind weniger bekannt. Doch gab es neben Tänzer/innen auch Musiker/innen, andere Artist/innen, die in so etwas wie Völkerschauen auftraten, ehemalige Soldaten, aber auch Arbeiter, wie Jaques Leurs, der bereits 1912 nach Luxemburg gebracht und durch den Dokumentarfilm Schwaarze Mann bekannt wurde. Dass sowohl Jeanne und Claudine, sowie auch Jaques Leurs, aus dem Kongo stammten, ist kein Zufall. Denn Luxemburg war stark in Belgiens Kolonialprojekt eingebunden.8
Über die Tanzvorführungen selber wissen wir wenig. Es ist jedoch anzunehmen, dass hier „das Fremde“ zum Spektakel gemacht und gängige Vorurteile reproduziert wurden, wobei die erotische Zurschaustellung der Körper eine wichtige Rolle spielte. Für die „exotischen“ Künstler/innen waren diese Aufführungen eine der wenigen Möglichkeiten, sich in relativer Autonomie ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wobei einige der Akteur/innen die Reproduktion rassistischer und exotisierender Bilder auf der Bühne als problematisch empfanden. So wurde zum Beispiel die 1930 in Berlin aufgeführte Theater-Revue Sonnenaufgang im Morgenland des kamerunischen Darstellers Louis Brody als Gegenstück zu den klassischen rassistischen Reproduktionen geschrieben und auch die Biografie Josephine Bakers bewegt sich zwischen halbnackten Auftritten im Bananenröckchen und dem aktiven Kampf gegen Rassismus.9 p