Die Tierärztin Marie-France Weisgerber ist nahezu im Dauereinsatz für kranke Tiere.
Das Land hat sie einen Tag lang begleitet

Die Kuhflüsterin

d'Lëtzebuerger Land vom 10.02.2023

Die Tierärztin drückt mir eine Plastikschürze in die Hand – „damit die Kühe deine Hose nicht vollkacken“. In einem Milchkühe-Stall im Zentrum des Landes entnehmen wir 160 Blutproben. Die Kühe sind am Fressgitter fixiert, damit Marie-France Weisgerber ungehindert ihre Nadel beim Schwanzansatz einstechen und das Blut in ein Reagenzglas einlaufen lassen kann. Die gefüllten lauwarmen Behälter übergibt sie mir. Diese werden mit der Nummer der jeweiligen Kuh etikettiert und auf einer Karre einsortiert. Milchkühe sind den Umgang mit Menschen gewohnt, nur die jungen Färsen werden nervös, als sich Marie-France ihnen annähert: Sie schreiten mit den Hinterbeinen von links nach rechts, schlagen jedoch nicht aus. Entnimmt Marie-France Limousins Blutproben, wie es für den darauffolgenden Tag vorgesehen ist, ist die Gefahr grösser, deshalb muss sie sich ihnen im Frontlader in einem Käfig nähern.

Am Ende der Blutproben-Abnahme bleibt eine Etikette übrig – der Bauer meint, der entsprechende Stier sei seit Jahren nicht mehr auf dem Hof. Er muss nun in den kommenden Tagen überprüfen, ob er vom Abdecker abgeholt oder verkauft wurde. „Den umgekehrten Fall habe ich auch schon erlebt: Dass sich im Stall eine Kuh befand, für die wir keine Etikette hatten“, erklärt die Tierärztin. Bevor wir den Stall verlassen, waschen wir gründlich die Untersohle der Gummistiefel, - „das ist das A und O bei den Hof- zu Hof-Visiten, um keine Parasiten zu verschleppen.“

Das Ministerium will die infektiöse bovine Rhinotracheitis (kurz IBR) ausrotten und veranlasst deshalb im Winter vor dem Weidegang Tests in Ställen. Es handelt sich dabei um eine Herpesvirus-Erkrankung; eine Infektionskrankheit, die Tiere häufig latent in sich tragen, bei Symptomen aber hohes Fieber, Nasenfluss und Milchrückgang bewirken können. Die Bekämpfung des Virus ist zeitintensiv: Eine Impfung schützt zwar vor Symptomen, verhindert jedoch nicht die Infektion mit dem Feldvirus, sodass Tiere das Virus latent beherbergen und weitergeben können, deshalb werden immer wieder Routinekontrollen durchgeführt.

Gegen Mittag sitzen wir wieder im VW-Break, der mit Medikamentenschränken vollgepackt ist, vor der Windschutzscheibe liegt ein Stethoskop, auf der Windschutzscheibe haben ihre beiden Katzen Pfoten-Abdrucke hinterlassen, an ihrem Schlüsselanhänger baumelt ein Stoffhund. „Tierärztin zu werden, war mein Kindheitstraum. Wir besaßen Milch- und Ammenkühe und mein Vater war als Viehhändler unterwegs – die Atmosphäre, die Kühe ausstrahlen, ist einfach besonders“. Sie erzählt von einer unbeschwerten Kindheit in dem kaum besiedelten Ostbelgien. In einer Mutterkuhherde von einem Bauern im Kanton Redingen hält sie heute vier Weißblaue. Sie ist eine von drei Großvieh-Tierärzten, die alleine arbeitet, ohne Team. In ihrem Kopf dreht das Thema eine Runde: „Als Einefraubetrieb kann ich mich selbst organisieren. Aber ich kann keine Schichten an Teamkollegen delegieren.“ Derzeit muss sie etwa zweimal im Monat nachts aufstehen wegen Kaiserschnitten. Vor 25 Jahren betreute sie mehrere Mutterkuhherden mit Charolais- und Blonde d’Aquitaine-Rinder, bei denen häufiger Geburtskomplikationen entstehen. „Damals kam ich wochenweise erst gegen Mitternacht nach Hause.“

Wir kehren in der Nähe von Ettelbrück in einen mittelgroßen Milchviehbetrieb ein. Die Betriebsleiter haben den Verdacht auf eine Labmagenverlagerung. Ein recht häufiger Vorfall bei Hochleistungskühen wie der Holstein-Friesian: Der Labmagen befindet sich beim Rind im Bauchraum unten rechts und kann sich bei Verdauungsstörungen mit Gas füllen und verrutschen. Marie-France stellt eine andere Diagnose, während sie mit der Hand in den Darm der Kuh fährt; es handle sich um eine Verdauungsverstimmung. Dessen Ursache aber sei schwer auszumachen: „Manchmal kann es an Blechdosen liegen, die Autofahrer gedankenlos beim Vorbeifahren an Feldern aus dem Fenster werfen und die später vom Mähdrescher oder Häcksler – anders als Blech – nicht aussortiert werden“, erläutert sie. Aus ihrem Kofferraum packt sie eine Baxter-Infusion aus; eine fünf Liter Kochsalzlösung dehnt die Plastikhülle. Während die Flüssigkeit intravenös verabreicht wird, zupft die sechsjährige Kuh am Heu. Marie-France spritzt der Kuh zusätzlich noch Vitamin B12 für die Verdauung und einen entzündungshemmenden Stoff. „Das sind Momente, die mich freuen“, sagt die Ärztin später in der Kaffeepause. Andere Situationen sind schwieriger zu verdauen. „Es kommt vor, dass Landwirte eine Kuh, die leicht beeinträchtigt ist, einschläfern lassen wollen. Und andere rufen zu spät den Veterinär, dann bleibt einem nichts mehr übrig als vorzuschlagen, dass sie erlöst werden muss. Da ringe ich mit mir und den Landwirten.“

Danach rollt der Break wieder Richtung Süden. Unterwegs drückt mir Marie-France einen Bogen in die Hand: „Jedes Jahr werden die Betriebe von mir bezüglich Tierhaltung, Ernährung und Hygiene bewertet. Dieses Bewertungsprinzip ist etwas kurios, da ich als Freischaffende meine Kunden benote und schlechte Benotungen in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass Landwirte nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wollten“. Eigentlich sei es besser, wenn die Bewertungen nicht vom betreuenden Tierarzt unternommen werden müssten. Auf dem ehemaligen Herrenhof angekommen, sehen wir zwei Kälber, hinter einem eingestreuten Korral umherhüpfen. An deren Rücken ist eine Decke befestigt. Sie haben eine Grippe. Marie-France steht unter Zugzwang und vergibt ein Antibiotikum. Um das adäquate Antibiotikum festzulegen, kann zuvor ein Antibiogramm erstellt werden, das auf Antibiotika-Resistenzen hinweist; heute bleibt dafür keine Zeit.

Antibiotika sind in der Landwirtschaft ein heikles Thema. Die bei den Vereinten Nationen angesiedelte Welternährungsorganisation warnt seit einigen Jahren vor Antibiotikaresistenz-Bakterien, die eine Pandemie auslösen können. Dazu bei trägt vor allem der Antibiotika-Einsatz in der Massentierhaltung der Schweine- und Geflügelzucht. Nicht selten werden sogenannte Reserveantibiotika verabreicht, die eigentlich nur in Notfällen verwendetet werden sollen. Zudem bereitet das Excenel-Antibiotikum der Tierärzteschaft sorgen, denn es bedarf hierbei – nicht so wie bei anderen Präparaten – kein Aussetzen der Milchabgabe. Dessen Anwendung lässt sich somit leichter verheimlichen. Normalerweise müssen Landwirte in ihrem Medikamentenbuch vermerken, was sie wie lange bei einer bestimmten Kuh anwenden – und Tierärzte in ihrem Abgabeheft, welche Medikamente sie an Landwirte verkaufen. Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass Medikamente über Internet angeschafft werden.

Selbstmedikation ist keine rezente Entwicklung. Vor zehn Jahren berichtete ein Großtierveterinär bereits dem Land (6.6.2014) von gegoogelten Diagnosen und dem Youtube Selbststudium über Behandlungen. Immer genauer schaue der Zuchtbullen- und Milchkuhbesitzer aufs Geld, während in der breiten Gesellschaft für Katzen und Hunde bereitwillig das Portemonnaie gezückt wird, erzählte der Pferdespezialist. Marie-France beobachtet das Phänomen auch, sie wird über Whatsapp-Nachrichten nach Behandlungstipps gefragt. Vor allem für Bullenkälber rechnet sich eine Visite aus Sicht mancher Landwirte nicht wirklich. Ein Bullenkalb kann derzeit für etwa 70 Euro verkauft werden. Tierarztvisiten kosten jedoch um die 38 Euro, hinzu kommt eine separate Medikamenten-Rechnung. Eine Operation, die bis zu 90 Minuten dauern kann, kostet um die 150 Euro.

Unterwegs in die Praxis von Marie-France holen wir ihre beiden grauen Esel, Pepe und Titi, von der Wiese und bringen sie für die Nacht in den Stall. In der Praxis empfängt sie einen zotteligen Mischling, der am rechten Hinterfuß eine rosa-orangene Socke trägt und darunter einen Verband. „Er hat sich eine Kralle rausgerissen und ich befestige einen neuen Verband, damit sich die Stelle nicht entzündet“, erläutert die Veterinärin. In einem Regal neben dem Behandlungstisch liegen Broschüren mit Informationen zu Tierbestattungen und -Einäscherungen. Immer mehr Hunde- und Katzenbesitzer greifen auf Bestattungsdienste zurück. „Für manche Bauern ist dies unverständlich, – dass jemand dafür Geld ausgibt.“ Sie selbst hat ihren Hund und eine ihrer Kühe einäschern lassen; sie macht keinen Unterschied zwischen Haus- und Nutztier. Wer sich mit einer Kuh intensiv beschäftige, stelle fest, dass man zu dieser eine ähnliche Beziehung wie zu Hunden aufbauen kann. Nebenan in ihrer Küche serviert mir Marie-France einen Kaffee. Über unsere Köpfe fliegt ein Spatz, der Piou-Piou, mit einem abstehenden Bein; es war gebrochen. Sie hat ihn von einem Hof mitgebracht und gepflegt. „Manchmal liege ich abends im Bett und erinnere mich an alles, was an dem Tag gut lief, an anderen Tagen überlege ich, was ich noch tun könnte für die kranken Kühe, die ich gerade betreue.“

Stéphanie Majerus
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