Rückkehr einer Erotik-Ikone

d'Lëtzebuerger Land vom 04.10.2024

Der Erotikfilm erlebte 1974 mit Emmanuelle unter der Regie von Just Jackin einen Höhepunkt. Mit Schauspielerin Sylvia Kristel besetzt und nach dem Roman von Emmanuelle Arsan wurde dieser Film bei seinem Erscheinen kontrovers diskutiert. Der 34-jährige Just Jackin war eigentlich Modefotograf. Es war sein erster Film, der Mitte der Siebzigerjahre den Softporno, dessen Aufkommen zeitgleich verlief, salonfähig machte.

Freilich sorgte der Kinostart von Emmanuelle in der noch von konservativen Moralvorstellungen geprägten Welt 1974 für einen Skandal. Die Verfilmung des gleichnamigen erotischen Bestsellers von Emmanuelle Arsan aus dem Jahr 1959 griff Ideen von Emanzipation und sexueller Freiheit wieder auf und machte die damals noch unbekannte Hauptdarstellerin Sylvia Kristel zur Ikone. Das Bild der jungen Niederländerin mit Kurzhaarfrisur und Perlenkette im Pfauenstuhl stand bald weltweit für eine neue Form der Freizügigkeit im Kino, die die kollektive Fantasie der gesamten Welt einfing: Erzählt wird von einer jungen Frau, Emmanuelle, die mit ihrem Mann, einem französischen Diplomaten, in Bangkok lebt und sich auf freizügige sexuelle Abenteuer mit mehreren Partnern und Partnerinnen begibt. Die Empfindungen möglichst direkt auf die Leinwand zu bringen, zeichnete Emmanuelle besonders aus. Diese gefühlsbetonte Befreiung, die sich in den Kontext der sexuellen Revolution und des Aufkommens der Anti-Baby-Pille einschrieb, beeinflusste zahlreiche spätere Erotikfilme nachhaltig.

Die Schriftstellerin Emmanuelle Arsan, die Wurzeln in Thailand hat, wählte die Großstadt Bangkok als Handlungsort mit Bedacht. Auch der Film weiß die Kulisse in seiner Bildsprache prägnant einzusetzen: Das Bangkok der 1970er Jahre wird in Emmanuelle als eine aufregende und pulsierende Metropole gezeigt, die sowohl den Blick auf das Land als auch auf dessen Zukunft veränderte: Die Szenen des schwimmenden Marktes oder die Bilder entlang des Kanals oder des Wasserfalls im Khao Yai befeuerten die Wahrnehmung Thailands als attraktives Reiseziel, das aus westlicher Sicht zu einem exotischen Hintergrund wurde, vor dem die junge Emmanuelle frei über ihren eigenen Körper zu verfügen lernt. Pierre Bachelet untermalte die Bilder mit süßlicher Filmmusik, um die Szenerie vollends in einer schwülstig-dichten Atmosphäre aufgehen zu lassen. Die damalige Lockerung der Sitten wird aus heutiger Sicht aber nicht nur als liberal aufgefasst, sondern mitunter auch als frauenfeindlich und fragwürdig; die neu entdeckte Freizügigkeit des Films sei nur ein Vorwand, um sexualisierte Gewalt zu zeigen.

Nun hat fünfzig Jahre später die französische Filmemacherin Audrey Diwan den Klassiker neu verfilmt. Die Exposition ihres Films beschwört einen direkten Rückverweis auf eine Kultszene des Vorgängers, ansonsten hat das Remake mit dem Original nicht mehr viel gemein: Emmanuelle (Noémie Merlant) ist als Hotelinspektorin tätig und reist durch verschiedene asiatische Länder. Den Schauplatz Bangkok gibt die Neuverfilmung zugunsten Hongkongs auf, wo Emmanuelle im Rosefield Palace, einem großen Luxushotel, logiert und sich einer Reihe sexueller Abenteuer hingibt.

In Audrey Diwans Erstlingswerk L’évènement, das 2021 den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig gewann, durchkreuzt eine ungewollte Schwangerschaft die Zukunftspläne einer jungen Studentin, die sich auf ihre Abschlussprüfung vorbereitet. Im Zentrum des Films steht der Vorgang einer blutigen Abtreibung, der die Entscheidungslast und die Zwänge junger Frauen in der Gesellschaft schmerzlich vor Augen führen soll und die Aktualität und Intensität dieses Spielfilmdramas im Wesentlichen bestimmt.

In ihrem zweiten Film zeigt Audrey Diwan nun die Suche einer Frau nach ihrer eigenen Sexualität, die auch eine Kritik am Rollenbild der Frau in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sein möchte. Zuvorderst geht es der Filmemacherin demnach um eine entschiedene Abkehr vom Originalfilm und um dessen Aktualisierung. Dafür spricht allein schon, dass Emmanuelle in dieser Verfilmung nicht im Schatten eines einflussreichen Mannes steht, der sie beständig als Sexualobjekt preist, sondern selbst in der Machtposition ist: Sie ist eine Qualitätsprüferin; sie spricht Urteile aus; ihren Einschätzungen unterliegen Schicksale. Das Thema der Macht durch Überwachung führt der Film beiläufig in der Funktion Emmanuelles als Aufseherin mit; die vielen Kamerabilder im Hotel sind in dieser Hinsicht vielsagend. Weniger geht es jedoch um die Darstellung weiblicher Lust, sondern mehr um die Exemplifizierung weiblicher Kontrolle und Dominanz. Nicht so sehr fokussiert Diwan eine schwülstige Atmosphäre des Begehrens, wie sie Jackin betrieb, sondern ein Machtgeflecht, in dem die Frau während des Liebesspiels an Einfluss gewinnt. Drei Sex-Szenen strukturieren die Neuverfilmung, in der Emmanuelle aus einer passiven Rolle in eine Position der aktiv Anweisenden tritt. Auch Noémie Merlants distanziert-kaltes Schauspiel hat an diesem wesentlichen Differenzkriterium zur Vorlage erheblichen Anteil. Stets unnahbar, achtet die Schauspielerin auf die Reduktion: keine Regungen in Mimik und Gestik, keine Gefühlsausbrüche. Dazu kommt eine Hochglanzästhetik in steril-kalten Interieurs, die viel von der bunten Farbkulisse des Originals vermissen lässt. Emmanuelle behauptet seine Erotik mehr, als dass sie wirklich spürbar würde.
Der Erotikfilm hat im Spannungsfeld zwischen Sex- und Pornofilm kontinuierlich neue Facetten und Ausprägungen angenommen, um seine Kunstfertigkeit und seine ästhetischen Reize zu erhalten. Die reine Skopophilie, die Befriedigung der Schaulust seines Publikums, ist nicht der erste Ansatz, den die Neuverfilmung verfolgt. Mit Blick auf die heutige Verfügbarkeit von Pornos im Internet scheint dieser Anspruch für Audrey Diwan nahezu obsolet. Diwan betrachtet die sexuelle Freizügigkeit ihrer Heldin mehr aus der kühlen Distanz, ähnlich wie die niederländische Regisseurin Halina Reijn ihre Hauptdarstellerin Nicole Kidman in Babygirl beschaut. Die Neuverfilmung findet indes keinen Fixpunkt, um die emotionale Welt der Frau begreifbar zu machen. Die mäandernde Handlung mag dem mitunter ziellosen Suchen der Protagonistin entsprechen; einer Suche, die aber keinen Fokus gewinnt. Mehr erzählt Emmanuelle von dem Absterben des Affekts im kapitalistischen System der modernen Welt. „À notre époque, il me semble que la jouissance est totalement liée à l’impératif de performance, au sens capitaliste du terme. Il faut rentabiliser, optimiser, profiter“, beschreibt die Filmemacherin ihren Anspruch. So scheinen weder die Arbeit als Qualitätsprüferin noch die sexuellen Erlebnisse, denen sie nachspürt, dieser neuen Emmanuelle wirklich Befriedigung zu verschaffen. Das kann man spannend finden und spannend inszenieren. Aber der Film stellt diese Frage eigentlich nur ansatzweise und wiederholt Stereotypen, die schon weithin bekannt sind.

Marc Trappendreher
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