Leicht verpixelt erscheint Radek Lipka auf dem Bildschirm: Hemd mit blau-weißem Karomuster, Hornbrille und kurzes braunes Haar. Er entschuldigt sich, keine Zeit für ein persönliches Treffen zu haben. Und beginnt sofort, zu erzählen. Die Vorbereitungen für das Filmfestival Cineast, das dieses Jahr zum 17. Mal stattfindet und dessen Direktor er ist, laufen auf Hochtouren. Eine Last-Minute-Suche nach einem neuen Jurypräsidenten hat die letzten Tage bestimmt – die Wahl fiel auf den rumänischen Regisseur Alexander Nanau, dessen von Luxemburg koproduzierter Dokumentarfilm Collective für den Oscar nominiert war. Auch findet zwei Tage nach dem Interview bereits das Konzert von Kalush Orchestra in der Rockhal statt, Radek Lipka muss ständig überall gleichzeitig sein.
Cineast versteht sich nämlich nicht nur als ein Filmfestival mit Fokus auf den Kurz- und Spielfilmen der osteuropäischen Ländern, sondern auch als eine Art deep dive in deren Kultur und Gesellschaft. Es geht Radek Lipka und dem Team darum, zu zeigen, wie die Gesellschaft sich dort entwickelt hat. Und darauf findet man natürlich im Film sehr unterschiedliche Antworten. Cineast ist neben dem Luxembourg City Film Festival das zweitgrößte des Landes, vergangenes Jahr kamen rund 10 000 Zuschauer/innen. Dabei ist das Festival langsam gewachsen, anfangs lag der Fokus lediglich auf einer Handvoll osteuropäischen Staaten. Nun sind 21 Länder vertreten, die den gesamten Raum von Slowenien im Westen hin zu Estland im Norden, Nordmazedonien im Süden und Georgien im Osten abdecken. Diesmal steht Kroatien im Mittelpunkt.
Der gebürtige Pole Radek Lipka wohnt seit 20 Jahren in Luxemburg. Nach ein paar Jahren im Großherzogtum schaute er sich mit seinem Berufskollegen um – Hynek Dedecius hat wie er in EU-Institutionen als Übersetzer gearbeitet – und stellte fest, dass kaum osteuropäische Filme in den luxemburgischen Kinosälen liefen. Und das, obwohl sie auf renommierten Festivals Preise einheimsten. Zu zweit beschlossen sie, die „Semaine du film polonais“ zu gründen. „Wir wollten nicht einfach Teil des Dekors hier sein, sondern selber etwas beitragen“, sagt er. Das war 2006. Die Semaine du film polonais entwickelte sich zum Festival de l’europe centrale weiter, 2008 fand das Festival zu seinem jetzigen Namen Cineast.
Seiner Arbeit als Übersetzer hat Radek Lipka in den letzten Jahren nicht mehr nachgehen können. Das Festival nahm immer mehr Zeit in Anspruch – was als vollständig von Ehrenamtlichen geführtes Projekt anfing, beschäftigt ihn nun in Vollzeit das ganze Jahr über. Hynek Dedecius und ein bis zwei weitere Teammitglieder gesellen sich in den sechs bis drei Monaten vor Beginn des Festivals hinzu. Die Arbeit besteht mittlerweile auch darin, auf die Berlinale, nach Cannes und nach Wrocław zu fahren, um Filme fürs Programm auszuloten und das Netzwerk zu pflegen. Dabei haben sich in den vergangenen Jahren vor allem die Berliner Filmfestspiele und das Filmfestival von Locarno als eine Art Fundgrube für das Cineast entwickelt.
Seit dem Krieg in der Ukraine hat auch dieses osteuropäische Land mehr Visibilität bei Cineast bekommen. Dieses Jahr gibt es neben der Fotoausstellung „United we stand“ fünf Spielfilme aus oder über die Ukraine; drei davon sind Dokumentarfilme.
Mit der komplexen Debatte, die es nach dem Beginn des Krieges über die Präsenz von russischen Filmen beim Luxembourg City Film Festival gab, mussten Radek Lipka und Hynek Dedecius sich nicht beschäftigen: „Wir mussten als Festival keine Position dazu ausarbeiten, denn wir zeigen keine russischen Filme.“
Einen einheitlichen Blick gibt es bei einer solchen Vielzahl an Ländern kaum. Aber was macht das Kino des „Ostens“ denn dann aus? Gibt es das überhaupt? „Wir suchen die Brücken zwischen dem Kino des Ostens und dem des Westens. Es gibt unendlich viele.“ Doch sicherlich gebe es auch Merkmale, die das Kino des Ostens in sich vereine. Einerseits der post-kommunistische Blick – auch Filmschaffende, die erst nach dem Fall der Sowjetunion anfingen, Filme zu produzieren, hätten einen subtilen Blick auf die Geschehnisse, die sie erzählen, einen gewissen Rahmen, in dem sie ihre Geschichten entfalten. Auch wenn diese Art der Filmsprache heute nicht mehr gebraucht wird, um sicherzugehen, dass der Film nicht zensiert wird – sie ist trotzdem geblieben, analysiert Radek Lipka. Auch die Beschäftigung mit der Zeitgeschichte, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Identitätsfindung der Staaten haben sie gemein. Und nicht zuletzt der Blick, den sie in den Westen richten, weil sie zum Beispiel der Europäischen Union beitreten. „Es gibt das Klischee, dass Filme aus diesen Regionen immer schwere soziale Dramen sind. Auch wenn es sie gibt, und sie oft Preise gewinnen, ist das Kino von dort außerordentlich divers. Wir möchten ein bisschen gegen dieses Stereotyp ankämpfen.“ Das kulturelle und sprachliche Kaleidoskop, das man in manchen Regionen der osteuropäischen Länder finde, sei dem luxemburgischen nicht unähnlich, eine Art Konvergenz der Kulturen.
Nachdem Cineast während der Pandemie auf ein Hybrid-Programm umstieg, hat das Team die Möglichkeit, ein Drittel des Programms online zu schauen, beibehalten. Das virtuelle Publikum schätzt Radek Lipka auf 12-15 Prozent all jener, die sich Tickets für Cineast besorgen. Bereits vor mehr als zehn Jahren hatte es viel Feedback von Kinogänger/innen gegeben, die Familien gründeten und aufs Land zogen. Es wurde schwieriger, sich abends ins Kino zu bewegen. Ihnen kommt es entgegen, sich einen Klassiker auch mal zuhause anschauen zu können. „Unser Hauptanliegen bleibt jedoch das Kino als ein lebendiges Erlebnis, eher als den gleichen Film sechs Monate später auf einem kleinen Bildschirm auf der Couch zu schauen.“
65 Spielfilme und 50 Kurzfilme stehen auf dem Programm. Im Wettbewerb konkurrieren dieses Jahr sieben Filme um einen Grand Prix und einen Special Jury Prize. Sowohl in Lesson Learned des ungarischen Regisseurs Bálint Szimler als auch im litauischen Film Toxic von Saulé Bliuvaité wird sich mit der Lebensrealität von jungen Menschen beschäftigt. In ersterem geht es um die oldschool ungarischen Unterrichtsmethoden und einen Jungen, der sich in einer neuen Schule damit zurecht finden muss; in Toxic (Goldener Leopard in Locarno) um das ungesunde Umfeld von Model- und Casting-Agenturen für Teenager-Mädchen, die dennoch nach nichts anderem streben, als für ihr Aussehen bewundert zu werden. Aus Serbien kommt 78 Days von Emilija Gašić, in dem ebenfalls drei Mädchen die Hauptrolle spielen. Sie filmen ihren Alltag während der Nato-Bombenagriffen von 1999 in einer Art Videotagebuch und verschränken so Alltägliches mit akuter Zeitgeschichte. Am weitesten zurück blickt Holy Week aus Rumänien, in dem der Regisseur Andrei Cohn Antisemitismus und die Wurzeln der Gewalt in einem Dorf im Jahr 1890 verhandelt. In Windless des Bulgaren Pavel G. Vesnakov konfrontiert der Protagonist Kaloyan seine Familiengeschichte und dadurch letzlich sich selbst. Der einzige Film, der noch nicht bereits im Ausland Preise gewonnen hat und in Luxemburg seine internationale Premiere feiert, ist die polnische Produktion Minghun von Jan P. Matuszyński. Darin werden Migrationshintergrund und Zugehörigkeit verhandelt – die Protagonistin ist halb Chinesin –, ebenso wie die allzu zeitlose Frage der Hoffnung.
Der Wettbewerb behandelt individuelle Schicksale, die für größere Themen stehen. Die Hauptselektion wirkt dabei etwas weniger politisch, als es andere Festivals derzeit sind. Kaum ein Festival der Welt entkommt der politischen Positionierung, auch nicht das Cineast. Doch die visuellen Fiktionen können auch einen Rückzug aus der überfordernden Realität darstellen. Im besten Fall taucht man ein und tankt auf, damit man dem reellen Leben wieder mit mehr Hoffnung begegnen kann.
Cinephile Menschen erzählen oft von dem einen Film, der ihre Liebe zum Kino entfacht hat. Welcher war es für Radek Lipka? Er denkt kurz nach. „Night on Earth von Jim Jarmusch.“ Um noch einen polnischen Klassiker der Filmgeschichte hinzufügen: „Und Kristof Kieślowksis Trilogie, vor allem Rot.“