Lange ist es her, dass eine britische Regierung Annäherung an die Europäische Union angestrebt hat. Doch genau das hat Keir Starmer in den ersten Monaten seiner Amtszeit getan. Gibt es konkrete Chancen auf eine Reform?

Starmer auf Freundschaftstour

d'Lëtzebuerger Land vom 27.09.2024

Als Auftakt dieses Neuanfangs galt der Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft, der im Juli in Großbritannien nahe Oxford stattfand. „Wir wollen mit Ihnen allen zusammenarbeiten, um die Beziehungen wiederherzustellen, unsere gemeinsamen Interessen wiederzuentdecken und die Bande des Vertrauens und der Freundschaft zu erneuern, die das Gefüge des europäischen Lebens zusammenhalten“, so Starmer, der zu diesem Zeitpunkt noch keine zwei Wochen im Amt war.

Der Premier weiß, dass Großbritannien als Außenstehender nur begrenzten Einfluss auf die Union hat. Statt in Brüssel für den Neustart zu werben, reiste er in die einflussreichsten Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Italien. Sein Ziel ist es wohl auch, das Terrain für neue Verhandlungen vorzubereiten, denn 2025 wird das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Königreich neu überprüft. „Im Laufe von 2025 werden wir versuchen, einen deutlich besseren Deal für Großbritannien zu bekommen“, so Starmer letztes Jahr in einem Interview mit der Financial Times.

Die größten Anliegen der neuen Regierung sind Wachstum und Grenzsicherung, und Deutschland und Frankreich stehen in diesen Bereichen als Partner natürlich ganz oben auf der Liste.

In Deutschland kündigten Scholz und Starmer einen „bilateralen Kooperationsvertrag“ zwischen Deutschland und Großbritannien an, der die Beziehungen der beiden Länder in Sachen Migration, Handel und Verteidigung vertiefen soll. Der britische Premier beschrieb dies als „einmalige Chance, etwas für die arbeitende Bevölkerung in Großbritannien und Deutschland zu tun“. Im Statement, das die Regierungen nach der Ansage veröffentlichten, wird ein sehr ehrgeiziger Vertrag beschrieben. Die Liste der Bereiche, für die eine „verstärkte Zusammenarbeit“ vorgesehen ist, ist lang: „Marktzugang, kritische Wissenschaft, Innovation und Technologie, saubere Energie, Handel über die Nordsee, Belastbarkeit der Lieferketten, Energiesicherheit und Bildung für den grünen Wandel, biologische Vielfalt und Umwelt“, so das gemeinsame Pressestatement. Um welche Projekte es sich jedoch konkret handelt, ist nicht bekannt. Das Abkommen soll noch in den nächsten Monaten ausgearbeitet werden.

Auch unterschrieben John Healey und Boris Pistorius, die Verteidigungsminister beider Länder, ein Kooperationsabkommen, das unter anderem eine Stärkung der Verteidigungsindustrie vorsieht. Es soll garantieren, dass beide Länder weiterhin eine langfristige militärische Unterstützung der Ukraine miteinander koordinieren.

Starmer erhofft sich, den Handel mit Europa anzutreiben, und hier steht seine Labour-Regierung vor einer großen Herausforderung. Seit dem Brexit ist der britische Außenhandel eingebrochen, wie eine rezente Studie der Aston University in Birmingham zeigt. Zwischen 2021 und 2023 sind britische EU-Exporte um 27 Prozent gesunken, Importe sahen einen Rückgang von 32 Prozent, so die Studie. In Deutschland traf Starmer Geschäftsführer von Siemens Energy und Rheinmetall, Deutschlands größtem Rüstungskonzern. Beide Firmen sorgen direkt und indirekt für Tausende Arbeitsplätze in Großbritannien. Die Regierung hat für Mitte Oktober einen International Investment Summit angekündigt, bei dem noch einmal Investitionen angekurbelt werden sollen.

In Italien zeigte der Premier Interesse an Giorgia Melonis Plan, Geflüchtete, die im Mittelmeer abgefangen werden, in Aufnahmezentren in Albanien zu bringen. Dort werden Asylanträge von Italien verarbeitet – das Abkommen mit Albanien soll schnelle Rückführungen ermöglichen. Die Aufnahmezentren seien in ein paar Wochen betriebsfähig, so Meloni. Zu Hause wurde Keir Starmer, der den Ruanda-Plan der vorigen Regierung abschaffte, dafür stark kritisiert. Will die Regierung nun doch wieder Drittländer in den Migrationsplan einbeziehen? Es bestürzte viele, dass Starmer, der ja Liberaldemokrat ist, an den Plänen einer rechtsradikalen Regierung interessiert ist. „Es ist beunruhigend, dass Starmer versucht, von einer neo-faschistischen Regierung Lehren zu ziehen“, sagte der Labour-Abgeordnete Kim Johnson dem Guardian. „Haben wir nichts aus den Versäumnissen der Tories gelernt? Höhere Sicherheitsmaßnahmen und drakonische Abschiebemaßnahmen können verzweifelte Menschen nicht davon abhalten, Asyl zu suchen, und es besteht die Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen“, so Johnson weiter.

Keir Starmers europäische Charmeoffensive sah in einem bestimmten Bereich jedoch plötzlich sehr einseitig aus. Und zwar wirbt die Europäische Union für das Youth Mobility Program, das es jungen Menschen unter 30 Jahren ermöglichen soll, vier Jahre lang in der EU zu leben, zu arbeiten und zu studieren. Dies würde natürlich auch Briten zugutekommen, denn momentan sind ihnen ohne Visum nur kurze Aufenthalte in der Europäischen Union erlaubt.

Starmer sagte, dass Großbritannien kein solches Abkommen vorsieht. Die Aussagen von Olaf
Scholz während des Treffens mit dem britischen Premier illustrierten dabei deutlich, wie verschieden die Motivationen beider Seiten sind. Er sagte, dass „die Kontakte zwischen unseren Gesellschaften, zwischen Deutschen und Briten, nach dem Brexit und wegen der Covid-19-Pandemie massiv zurückgegangen sind“. Das wolle man ändern, so der Bundeskanzler. „Wer sich gut kennt, versteht sich besser“, sagte Scholz. Großbritanniens Sicht könnte man jedoch so zusammenfassen: Investitionen und Hilfe bei Abschiebungen – gerne. Kultureller Austausch, nein danke.

Keir Starmers europäischer Neustart ist ein schwieriger Balanceakt. Das isolierte Großbritannien mit seinen leeren Staatskassen braucht Europa mehr als umgekehrt. Doch auf der Insel sollen Wähler das nicht zu sehr spüren. Denn 52 Prozent der Bevölkerung stimmte nunmal für den EU-Austritt und dafür, dass das Königreich wieder „die Kontrolle zurücknimmt“ und – ganz wichtig – weniger Migranten auf die Insel lässt.

Immer wieder betont Starmer, dass er den Brexit nicht rückgängig machen werde, doch eine Lockerung von Einwanderungsregeln würden viele genauso interpretieren. Dass es sich beim Mobilitätsprogramm um eine beschränkte Aufenthaltserlaubnis handelt und nicht um unbegrenzte Bewegungsfreiheit, wird für viele keinen Unterschied machen. Denn wie schon vor der Brexit-Wahl würden konservative und rechte Politiker, sowie die Boulevardpresse, wieder Immigrationsängste schüren, bei denen Fakten auf der Strecke blieben. Wenn Europäer also wieder leichter auf die Insel kommen können, kann das zum Problem für Starmer werden. Er wäre schließlich nicht der erste britische Premier, der sich an EU-Verhandlungen die Zähne ausbeißen würde.

In Brüssel hingegen läuft Großbritannien die Gefahr, wieder als Rosinenpicker gesehen zu werden, der mit Konzessionsforderungen den guten Willen der Mitgliedstaaten testet. Ob dieses Image noch gerechtfertigt ist, könnte sich bald herausstellen: Britische Medien berichteten letzte Woche, dass man in Brüssel gerade an einem überarbeiteten Vorschlag für das Mobilitätsprogramm arbeite, das Großbritannien abgelehnt hat. Die neue Version sieht vor, dass Europäer heimische Gebühren in Großbritannien zahlen. Eine Ablehnung könnte Großbritanniens Wunsch nach neuen Abkommen gefährden, warnten EU-Vertreter, so der Guardian.

Es ist erleichternd, wieder freundliche Töne zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich zu hören. Doch ob diese Freundlichkeit auch zu einer konkreten Reform führt, bleibt abzuwarten. Die Europäische Union hat jedenfalls weiterhin die Oberhand.

Claire Barthelemy
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