Islington North in London ist ein Stadtteil mit harten Kontrasten: Dominiert wird die Gegend vom Finsbury Park und dem gleichnamigen, unattraktiven Bahnhof, neben dem Hochhäuser stehen. Es gibt hier viele kleine Textilläden, im südlichen Teil dominieren vor allem algerische Geschäfte. Nach Norden hin wälzen sich lange Straßen mit dreistöckigen Reihenhäusern aus dem viktorianischen Zeitalter einen Hügel hinauf – hier ist es grüner und angenehmer. Dazwischen stehen soziale Wohnungsbausiedlungen aus den 1960-er und 1970-er Jahren.
In einigen Ecken, wie etwa in Crouch End, gibt es teure Cafés – die Treffpunkte der bürgerlichen Linken. Doch es gibt auch viel Armut in Nord-Islington: 43 Prozent der Kinder leben in verarmten Haushalten, 42 Prozent der Menschen über 60 beziehen Sozialleistungen. 37 Prozent der Bevölkerung gehören ethnischen Minderheiten an, während viele der weißen, englischen Mehrheit aus traditionellen Arbeiterfamilien stammen. Der Fußballclub Arsenal London hat hier sein Stadion, auch das prägt den Bezirk. Und: Alle diese Bewohner/innen werden an den Rand gedrängt von der Gentrifizierung, typisch für alle Londoner Viertel, die nicht allzu weit vom Zentrum entfernt sind.
Seit 40 Jahren vertritt Jeremy Corbyn diesen Wahlkreis im britischen Unterhaus. Als er 1983 dort erstmals gewählt wurde, war er 33 Jahre alt, ein Vertreter der jungen radikalen Linken um den damaligen Parteichef Michael Foot, der Labour in eine empfindliche Niederlage gegen Margaret Thatcher führte. Heute ist Corbyn 73 Jahre alt und vertritt die alte radikale Linke. Er führte Labour als Parteichef 2019 in eine krachende Niederlage gegen Boris Johnson. Als er danach zurücktrat und der gemäßigtere Keir Starmer ihm nachfolgte, wurde Corbyn aus der Labour-Fraktion im Parlament ausgeschlossen.
Corbyns politischer Niedergang fand vor zwei Wochen schließlich seinen vorläufigen Schlusspunkt: Der Parteivorstand beschloss auf Antrag Starmers, dass Corbyn bei der nächsten Wahl 2024 nicht mehr für Labour kandidieren dürfe. Corbyn erwägt nun eine Kandidatur für seinen Wahlkreis als Unabhängiger – der Bruch mit Labour ist wohl endgültig.
In seinem Wahlkreis ist Corbyn weiterhin beliebt. Fragt man Menschen in Islington nach ihm, hört man nur Lob. Er setze sich effektiv für die Belange seiner Wähler ein, schreibe Briefe und E-Mails und halte, was er verspreche. Für Labour ist er aber zur Belastung geworden, kurz vor den Unterhauswahlen, die wohl 2024 stattfinden werden und Labour einen hohen Sieg bescheren könnten. Corbyn hatte gegen Ex-Premier Johnson nicht nur eine der größten Niederlagen in der Geschichte der Partei eingefahren. Die britische Gleichberechtigungs- und Menschenrechtskommission EHRC hatte außerdem Antisemitismusvorwürfe geprüft und für stichhaltig befunden. Corbyn habe als Parteichef zu wenig getan, um Antisemitismus in der Partei zu begegnen.
Corbyn bagatellisierte die Vorwürfe, statt sie ernst zu nehmen, was ihm schließlich den Fraktionsausschluss einbrachte. Konkurrent Starmer wälzte die Partei um, schuf neue Auswahlverfahren für Kandidaten sowie eine unabhängige Beschwerdestelle und entließ Mitglieder aus der Partei und der Fraktion, vor allem aus Corbyns Sympathisantenkreis.
„Der Unterschied zwischen Starmer und Corbyn war wie Tag und Nacht“, erzählt Mike Katz, Vorsitzender des jüdischen Labour-Verbands JLM, Jewish Labour Movement. Katz ist 50 Jahre alt, er hat einen markanten Undercut-Haarschnitt, Linksscheitel und schwarze Hornbrille. Labour trat er in den 1990-er Jahren als Student bei. „Als Teenager war ich entsetzt, dass Rentner sterben konnten, weil sie nicht in der Lage waren, ihre Wohnung zu heizen, und der Staat am Gesundheitssystem sparte“, erinnert er sich an die damalige Endphase der langen konservativen Regierungszeit.
Aktiv geworden sei er erst kurz vor Tony Blairs Wahlsieg 1997, als Labour für 13 Jahre an die Macht kam: „Ich unterstützte seine Ausrichtung.“ Jahrzehnte später, inzwischen war Corbyn Parteichef, wäre Katz fast wieder ausgetreten. Er sah, dass jüdische Abgeordnete wie Louise Ellman und Luciana Berger aus der Partei gedrängt wurden. Viele radikale Linke sahen Israel als Hauptfeind, Juden standen bei Labour unter Generalverdacht und es gab antisemitische Äußerungen bis hin zur Holocaustleugnung.
Katz sagt, die Mitgliederzahlen des jüdischen Labour-Verbands seien in dieser Zeit aber zugleich „immens“ angestiegen, die Solidarität sei sehr groß gewesen. Dann kam Starmer statt Corbyn, „plötzlich standen wir im Mittelpunkt und erhielten Respekt“, erinnert Katz sich. „Null Toleranz gegen Antisemitismus und Entgiftung der politischen Kultur“, sagt er.
Labour sei heute „eine sozialdemokratische Partei, die versteht, dass die Märkte unter Aufsicht und Kontrolle stehen müssen, um soziale Gerechtigkeit gewährleisten zu können“, findet Katz. Und: „Wer nun nicht glaubt, dass Antisemitismus ein Problem ist, muss nicht Parteimitglied bleiben.“ Dann meint er: „Ich glaube, dass Starmer damit die nächsten Wahlen gewinnen und das Land in den Wohlstand führen kann, den es zuletzt unter Blair und Brown genoss.“
Was Katz lobt, sehen jüngere Aktivistinnen wie Nabeela Mowlana kritisch. Die 26-jährige ist die Vorsitzende von Young Labour und Stadträtin im Bezirk Park and Arbourthorne in Sheffield. In diesem von Sozialwohnungen geprägten Viertel ist Mowlana aufgewachsen. Zum Interview tritt sie ganz in Weiß auf, inklusive Hidschab, vor jeder Antwort überlegt sie sorgfältig. „Die Chancen von Menschen aus dieser Gegend sind im Vergleich zu benachbarten Stadtteilen begrenzt“, sagt sie. „Als Labour-Mitglieder besteht unsere Aufgabe nicht darin, uns nur gegen die Tories zu stellen, sondern auch, ein alternatives Weltbild zu vermitteln.“
Ein alternatives Weltbild, das ist es auch, was sie zu Labour brachte, als Corbyn Parteichef war: „Ich sah, dass die Labour-Partei einen fundamentalen Gesellschaftswechsel ansteuerte, eine freie und gerechte Gesellschaft: Dinge wie die Abschaffung der Studiengebühren oder die Einführung eines sozialen Zivildienstes“, sagt sie mit ansteckender Begeisterung. Starmer geht für sie nicht weit genug. Sie würde gerne die Bahn, Post, Strom und Wasser in öffentlicher Hand sehen, und sie will starke Gewerkschaftsrechte, Wohnungsbau, eine verantwortliche Kommunalpolitik und öffentlichen Zugang zum Internet. Starmer als Parteichef ist ihrer Meinung nach gar nicht so wichtig: „Das Rückgrat der Labour-Partei waren immer die Mitglieder und Aktivist/innen, insbesondere die jüngeren Menschen, die von Tür zu Tür gehen, Leute anrufen und sich für die Partei einsetzen – weil sie glauben, dass eine Welt, die der Mehrheit dient, möglich ist.“ Die Parteiführung solle überhaupt viel mehr auf die jungen Leute hören, findet sie.
Es gibt viele linke Kritiker des Starmer-Kurses an der Labour-Basis, aber sie halten derzeit eher still. Zahlreiche Genoss/innen verweigern auf Anfrage das Gespräch. Phil Smith, 32, will nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen, da er Angst hat, dass er seinen Status als kommunaler Labour-Kandidat in einer konservativ regierten Gemeinde nahe London verlieren könnte. Labour bedeute für ihn, der im Erziehungswesen arbeitet, eine Politik nach „skandinavischem“ Vorbild, wie er sagt: „Ein sozialdemokratisches System, mit Programmen wie die Wiederverstaatlichung von Wasser und Strom und einem ausgedehnten sozialen Wohnungsbau.“ Smith trat Labour 2019 bei, „weil ich mich persönlich schuldig fühlte, nicht genug getan zu haben, um Boris Johnson zu verhindern“, sagt er ernst. Seine Partei erlebe er als gespalten: „Da sind zum einen die Mitglieder wie ich, die wollen, dass Menschen genug zu essen und ein Dach über den Kopf haben.“ Zum anderen gebe es die Labour-Führung und die Labour-Parlamentsfraktion. „Die befürworte ich persönlich weniger.“ Zum Beispiel habe Starmer versprochen, Gesetze abzuschaffen, die die Arbeit der Gewerkschaften einschränken – „doch später feuerte er einen Schattenminister, nur weil der sich mit Streikenden in eine Streikpostenkette gestellt hatte. Das schockierte viele von uns und sorgte für Unsicherheit, weil wir nicht mehr wussten, ob wir als Labour-Genossen Streiks unterstützen dürfen“.
Aktuell verursacht die Auswahl der Parlamentskandidat/innen für die nächsten Wahlen große parteiinterne Spannungen – ein weiterer Grund, warum so viele Mitglieder nicht offen reden wollen. „Starmer hatte versichert, dass Ortsverbände weiterhin das Sagen hätten, doch in Wirklichkeit treten ganze Vorstände zurück, weil sich die Parteispitze Leute aussucht, die nicht die Mehrheit vor Ort hinter sich haben“, sagt Smith. Er fürchtet, dass Labour momentan zu sehr auf Nummer sicher spielt. „Sie werden die nächsten Wahlen gewinnen, weil die Tories keiner mehr will.“ Moralisch sei das jedoch halbherzig. „Was genau ist das Ziel einer Labour-Regierung unter Starmer?“ Corbyn sei ihm lieber gewesen: „Er wäre zwar auf großen Widerstand in der Partei gestoßen, aber er setzte sich für das ein, woran er glaubte.“
Halbherzigkeit und Unbeweglichkeit nach außen, aber um so ruchloseres Vorgehen gegen Kritiker nach innen – diesen Vorwurf erheben so manche Labour-Mitglieder gegen ihren Chef. In der britischen Öffentlichkeit ist Keir Starmer kein Star. Er landet zwar nicht bei negativen Beliebtheitswerten wie der konservative Premier Rishi Sunak oder wie dessen Vorgängerin Liz Truss und Boris Johnson kurz vor seinem Rücktritt im Sommer 2022. Aber es deutet eben auch nichts auf die Art von Begeisterung hin, die dem letzten Labour-Wahlsieger Tony Blair 1997 entgegenschlug. Starmer ist weniger beliebt als seine Partei, die in den Umfragen konstant mit weitem Abstand vorne liegt, teils mit Zustimmungswerten von 50 Prozent.
Starmer sei plump, er könne die Leute nicht begeistern, auch wenn er analytisch und thematisch gut sei, lautet das ungeschminkte Urteil von James O’Flynn, ein Labour-Aktivist in Colne Valley in Yorkshire im Norden Englands. „Mister Woody“ nennt er seinen Parteichef. Zwei Jahre lang war O’Flynn während der Corbyn-Jahre Labour-Vorsitzender in Colne Valley – es sind Gegenden wie diese, die Labour zurückholen muss, wenn die Partei zurück an die Regierung will. Weil sie den Brexit wollten, stimmten diese ehemals blühenden, heute kriselnden alten Industrieregionen 2019 massiv für Boris Johnsons konservative Tories. Mit dem Finanzexperten Rishi Sunak können sie wenig anfangen. Und mit Keir Starmer? „Die Politik der Partei unter Keir Starmer würde ich als ziemlich verhalten beschreiben“, sagt O’Flynn.
Positiver fällt das Urteil bei Labour-Mitgliedern in Wales und Schottland aus. „Was wir wirklich in dieser gespaltenen Gesellschaft brauchen, ist eine Regierung, die sich mehr um Chancengleichheit und Fairness kümmert“, sagt Gareth Sandilands, seit 2012 Gemeinderat für Welsh Labour in Prestatyn South West, Denbighshire. Mit Keir Starmer komme endlich ein „frischer Wind“, findet der 43-Jährige. Sandilands Wahlbezirk Rhyl West, ein verblichenes Strandbad an der walisischen Nordküste, gilt als eine der ärmsten Gegenden im ganzen Land. „Die Leute hier haben die Wahl zwischen Essen oder Heizung“, sagt Sandilands. „Sie wollen jemanden, der sie ernst nimmt, und ich halte Starmer für diesen Mann.“ Sandiland klingt, als übe er schon seine Wahlkampfreden.
Nicht minder begeistert ist Sandra Macdonald, eine 65-jährige Labour-Gemeinderätin im schottischen Aberdeeen. In der alten Industrie- und Werftstadt dominiert heute nicht mehr Labour, sondern die SNP (Schottische Nationalpartei), aber seit Nicola Sturgeons Rücktritt als schottische Regierungschefin und dem innerparteilichen Zank bei der SNP fühlt sich Labour in ganz Schottland beflügelt. „Das Land braucht eine große Veränderung“, findet Macdonald, und dafür stehe Keir Starmer.
In Islington müssen die Labour-Aktivisten jetzt erst mal die Nachricht verdauen, dass ihr geliebter Abgeordneter Jeremy Corbyn nun außerhalb der Partei steht. „Er ist beeindruckend gut, er sorgt sich sehr um die Wahlgemeinde und ist ansprechbar“, so beschreibt Jasmin Walker ihren Abgeordneten. Selbst für kleine Treffen habe er sich Zeit genommen, berichtet die 28-Jährige, die ein Online-Geschäft führt. Sie weiß, dass Corbyns Verbannung etwas mit Antisemitismus zu tun hat, aber genau versteht sie das nicht. „Die Maßnahmen gegen Corbyn finde ich scheinheilig. Boris Johnson hat klar rassistische Dinge von sich gegeben und ihm ist so etwas nicht passiert.“ In Islington North müssen sich die Leute auch schon mal Gedanken machen – ob sie einen unabhängigen Kandidaten Corbyn unterstützen wollen oder eine Labour-Partei ohne ihn.