Nachdem ein 17-Jähriger im englischen Southport drei junge Mädchen getötet hatte, lösten Falschmeldungen in den sozialen Medien schwere Ausschreitungen in Großbritannien aus. Für Keir Starmer ist es die erste große Herausforderung

Wenn Hass im Netz zu Hass auf der Straße wird

d'Lëtzebuerger Land vom 09.08.2024

Es waren erschreckende Szenen, die sich letzte Woche in mehreren Städten in Großbritannien abspielten. In Rotherham griff ein wütender Mob von rund 700 Menschen ein Hotel an, das als Unterkunft für Flüchtende genutzt wird. Randalierer warfen Stühle, Flaschen und Zaunpfosten auf Polizisten, zertrümmerten Scheiben des Hotels und schrieen „Get them out“ – „Holt sie raus“. Es gelang ihnen schließlich, in das Hotel einzudringen und mit einem brennenden Abfallcontainer einen Eingang des Hotels zu blockieren. Wie durch ein Wunder wurde im Gebäude, in dem rund 240 Asylsuchende leben, niemand verletzt. Drinnen habe man Türen mit Möbelstücken blockiert und sich verschanzt, berichtet Sky News.

In Hull zerrten Rechtsradikale Männer osteuropäischer Abstammung aus einem Auto und schlugen auf sie ein. Die Worte „Ausländer“ und „schnappt sie“ sind zu hören. Bei Ausschreitungen in Belfast wurde ein Mann schwer verletzt – Zeugenaussagen zufolge traten Randalier ihm mehrmals gegen den Kopf. Die Polizei geht auch hier von einem rassistisch motivierten Hassverbrechen aus.

Weitere Ausschreitungen gab es unter anderem in Manchester, London, Bristol, Liverpool, Middlesbrough, Belfast, Stoke-on-Trent, Blackpool und Hull. Moscheen und Polizeistationen wurden angegriffen, zahlreiche Läden geplündert. Mehrere Gebäude brannten nieder, darunter auch eine Bibliothek und eine Bürgerberatungsstelle.

Auslöser dieser Unruhen war ein Messerangriff und die darauf folgenden Falschmeldungen. Am 29. Juli betrat ein 17-jähriger einen Taylor Swift-Tanzkurs in Southport, einer Küstenstadt nördlich von Liverpool, und stach auf Kinder und Erwachsene ein. Drei Mädchen im Alter von sechs, sieben und neun Jahren kamen bei dem Angriff ums Leben, mehrere Kinder und Erwachsene erlitten schwere Verletzungen. Premierminister Keir Starmer, König Charles III. und sogar Taylor Swift zeigten sich bestürzt und sprachen den Angehörigen ihr Mitgefühl aus. Doch den Familien blieb wenig Zeit zur Trauer. Denn es brodelte in den sozialen Netzwerken, wo rechtsradikale Influencer Gerüchte verbreiteten: Es wurde behauptet, der Täter sei ein islamischer Asylbewerber, der illegal im Schlauchboot nach Großbritannien kam. Nigel Farage, Leader von Reform UK, einer rechtsradikalen Partei, warf der Polizei in einem Video vor, die „Wahrheit vor uns zurückhalten“.

Als die Polizei dann schließlich bekannt gab, dass der Täter eigentlich in Wales geboren wurde und kein extremistischer Tatverdacht festgestellt wurde, war es schon zu spät. Berichten zufolge versammelten sich Randalierer vor der Moschee in Southport, warfen Ziegel und Steine auf Polizisten und legten Feuer. Die erschreckende Gewaltbereitschaft dieser Gruppen verdeutlicht, dass Fakten keinen Unterschied gemacht hätten. Der Hass sitzt tief, die Falschmeldungen waren ein willkommener Vorwand für die wütenden, weißen Randalierer, von denen viele englische und britische Flaggen mitgebracht hatten.

Bis jetzt wurden mehr als 400 Randalierer im ganzen Königreich festgenommen – etliche erschienen bereits im Schnellverfahren vor Gericht. Großbritanniens Premierminister Keir Starmer zeigte sich entschlossen: „Diejenigen, die an dieser Gewalt beteiligt waren, werden mit der vollen Härte des Gesetzes konfrontiert werden.“ Nach einer Krisensitzung am Montag kündigte er Maßnahmen an, die ein hartes Durchgreifen ermöglichen sollen: Strafverfahren werden beschleunigt, ein „stehendes Heer“ von spezialisierten Polizeibeamten soll lokalen Polizeistationen helfen und Moscheen erhalten mehr Schutz. Außerdem sei dafür gesorgt, „dass zusätzliche Staatsanwälte im Einsatz sind, dass Gefängnisse vorhanden sind, dass Plätze in den Gefängnissen bereitstehen und dass auch die Gerichte bereit sind“, versprach Innenministerin Yvette Cooper.

Labour steht nun vor ihrer ersten großen Regierungsprobe. Im Wahlkampf stellte sie sich gerne als „Law and Order“-Partei dar. Keir Starmers Vergangenheit könnte dieses Image nun weiter festigen: Er war Generalstaatsanwalt, als 2011 in London Unruhen ausbrachen. Damals führte er ein zusätzliches Gerichtsprotokoll ein, das Gerichte in England rund um die Uhr öffnete, um die vielen Randalierer schnellstmöglich zu verurteilen. Die Geschwindigkeit der Verfahren sei wichtiger als die Härte der Strafe, sagte er 2012 dem Guardian, und genau das scheint auch heute seine Strategie zu sein. Ein schnelles Eingreifen wird auch der Polizei dienen, die in vielen Städten überfordert war. Und natürlich sehnen sich Einwohner, die in ihren Ortschaften in Angst und Schrecken versetzt wurden, nach Ruhe und Sicherheit. Die muss Starmers Regierung nun schnell liefern.

Eine noch schwierigere Herausforderung wird es sein, weitere Unruhen zu verhindern. Dazu müssen auch soziale Medien in Betracht gezogen werden. Denn auf Netzwerken wie Telegram, X und Facebook mobilisierten sich gewalttätige Rechtsextremisten in kürzester Zeit und trafen auf komplett überforderte Polizeikräfte. Gerüchte und Protestaufrufe gingen nicht von öffentlichen Organisationen aus, sondern kursierten in rechten Chat-Gruppen. Influencer wie der rechtsextreme und misogyne Andrew Tate griffen Fehlermeldungen auf und verbreiteten sie an ihre vielen Follower, so dass rechtes Gedankengut auch auf den Bildschirmen etlicher junger Männer landete.

Die Polizei berichtete, dass viele Randalierer in Rotherham und auch in Manchester Anhänger der English Defence League (EDL) seien, eine islamfeindliche Partei, die es offiziell eigentlich nicht mehr gibt. Doch ihr früherer Leader Stephen Yaxley-Lennon, besser bekannt als Tommy Robinson, ist auf X seit Elon Musks Übernahme wieder sehr aktiv. Seine 900 000 Follower feuerte er an: „Geht hin und zeigt eure Unterstützung. Die Leute müssen aufstehen.“

Elon Musk selbst lieferte sich eine Wortschlacht mit Großbritanniens Regierung, als er auf X verkündete, dass ein „Bürgerkrieg“ in Großbritannien „unvermeidlich“ sei. Auf einen nüchternen Diskurs mit Elon Musk kann Starmer kaum hoffen. Doch er ist sich bewusst, dass seine Regierung gegen Hetze im Netz vorgehen muss, auch wenn Tech-Firmen dabei nicht mitziehen. Am Dienstag wurde gegen einen 28-jährigen Anklage erhoben, weil er auf Facebook Inhalte gepostet hatte, die Rassenhass schüren sollten. Er ist die erste Person, die wegen mutmaßlich krimineller Online-Nachrichten im Zusammenhang mit den Unruhen verfolgt wird. Davon wird es in den kommenden Tagen noch mehr Fälle geben.

Rassistische Angriffe kommen im generell sehr toleranten Großbritannien nicht öfter vor als in anderen westlichen Ländern. Die schnelle Ausbreitung und vor allem das Ausmaß der Gewalt hat das Königreich sehr erschüttert. Die Zeichen waren jedoch da. Der politische Diskurs über Immigration ist seit Jahren verroht und die Tories sind vielen nicht mehr konservativ genug: Die rechtsradikale Partei Reform UK ergatterte den drittgrößten Stimmenanteil bei den Wahlen, eine Tatsache, die neben dem Erdrutschsieg von Labour oft übersehen wird.

Auch liegt all dem zugrunde, dass in den letzten Jahren der britische Sozialstaat komplett ausgehöhlt wurde. Wenn Bürger keine feste Arbeit finden, Schulen wegen Einsturzgefahr schließen und Patienten stundenlang auf Krankenwagen warten müssen, dann wissen Rechtspopulisten, dass sie auf nahrhaftem Boden stehen. Unterstützt werden sie von Boulevardblättern wie der Daily Mail, die seit Jahrzehnten Ausländern und Asylbewerbern die Schuld für die Probleme des Königreichs gibt.

Das Versprechen der Tories, die Zahl der Einwanderer dank Brexit zu senken, um angeblich mehr Geld ins staatliche Gesundheitssystem fließen zu lassen, hat sich nicht erfüllt. Die Einwanderungszahlen stiegen seit dem Referendum weiter und mit ihnen rassistische Übergriffe auf Minoritäten. Zu diesem Pulverfass kommen nun unregulierte soziale Netzwerke und rassistische Influencer, die sich mit dem Hass, den sie schüren, eine goldene Nase verdienen. Stephen Yaxley-Lennon postete zum Beispiel seine islamfeindliche Hetze diese Woche aus einem Luxushotel in Zypern.

Starmer muss gewalttätige Rassisten und deren Befähiger mit aller Härte verurteilen und bekämpfen, doch gleichzeitig muss er allen Menschen versichern, dass das Leben in Grossbritannien unter seiner Regierung wieder leichter wird. Begrüßen würden viele Labour-Wähler wohl auch, wenn der Premier die Bevölkerung noch einmal daran erinnert, wie sehr Einwanderer dem Königreich und vor allem dem staatlichen Gesundheitssystem dienen, für das unzählige ausländische Fachkräfte arbeiten. In Sunderland wurden zum Beispiel am Freitag zwei philippinische Krankenpfleger angegriffen, die sich auf dem Weg zum Krankenhaus befanden, um dort während der Unruhen Nothilfe zu leisten. Bis jetzt gab es viel Kritik an Rassisten, aber wenig Trost für Großbritanniens Minoritäten.

Einwohner von Sunderland, Hull und anderen betroffenen Städten lieferten jedenfalls wieder Bilder eines weltoffenen und toleranten Grossbritanniens: Mit Besen, Eimer und Abfalltüten halfen sie, ihre Städte aufzuräumen. Freiwillige in Southport bauten eine zerstörte Wand einer Moschee wieder auf und Tausende spendeten Geld für Reparaturen von Läden, Cafés und der abgebrannten Bibliothek in Liverpool. „We are not going to let them divide us“, hieß es in Middlesbrough. „Wir lassen nicht zu, dass sie uns spalten.“

Claire Barthelemy
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