Kino

Paradise Lost

d'Lëtzebuerger Land vom 13.01.2023

Die letztjährigen Filmfestspiele von Cannes werden im cinephilen Langzeitgedächtnis ihre Spuren nicht hinterlassen. 2022 wird das Jahr sein, im Schatten der Ausnahmejahre Pre- und Post-Covid 2019 und 2021, in dem eine sehr unentschiedene Jury und ihr Präsident die Hälfte des Wettbewerbs mit Preisen überschüttete. Fast schon wie ein Witz wirkte der extra für die Gelegenheit erfundene Preis, die Dardenne-Brüder bloß nicht mit leeren Händen zurück nach Lüttich gehen zu lassen. Auch Triangle of Sadness von Ruben Östlund wird von der Bildfläche und aus dem Diskurs verschwinden. Genau wie schon sein palmierter Vorgängerfilm. Ein anderer Film, der erst sehr spät auf die bis dahin schon schlafdefizitäre Filmpresse losgelassen wurde, schien die Jury wenig zu begeistern. Pacifiction von Albert Serra est parti bredouille. Ein Fehler. Mit einem Schlag ließ der Regisseur einen fast vergessen, dass der Wettbewerb eigentlich ënner aller Sau war.

Pacifiction ist das bis dato narrativ dichteste Werk des Katalanen. Das will nicht sehr will heißen. Die Geschichte lässt sich auch diesmal problemlos auf einen Estrella-Bierdeckel kritzeln. Serra lädt zu einem 165-minütigen Abstecher nach Französisch-Polynesien ein. Auf einer der Inseln des „territoires d’outre mer“ der französischen Republik – sehr wahrscheinlich auf Tahiti – trifft man auf Hochkommissar De Roller. Monsieur De Roller, wie er von den Ortsansässigen genannt wird, ist mit jedem bekannt, scheint jederzeit überall anzutreffen zu sein. Er ist ein Diplomat der ganz alten Schule: aalglatt, immerzu nett und höflich und von einer latent beunruhigenden Hilfsbereitschaft. Mit Fahrer und einem weißen Dienst-Mercedes, der sein vestimentäres Auftreten widerspiegelt – weißer Anzug, Hawaiihemd und Sonnenbrille mit dunkelblauen Gläsern –, ist De Roller den Bewohnern seines Verantwortungsterritoriums nahe. Seien sie einfache Hotelangestellte, eine Theatertruppe, französische Expats oder das immerpräsente Militär. Während einem seiner Abende im Paradise Night-Club schnappt er ein Gerücht auf, dem er zunächst nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenken möchte: Die französische Marine soll sich auf neue Atomtests in den nächstgelegenen Atolls vorbereiten. Die Insel ist eine Insel und das Gerücht macht schnell seine Runde, bis Kommissar De Roller von einer lokalen Interessensgruppe damit konfrontiert wird. Was er wisse? Was er zu tun gedenke? Hilfsbereit, wie er ist, zwischen den Stühlen von Militär und einer unsichtbaren lokalen Dynamik, macht De Roller sich auf die Suche nach Hinweisen.

Die Kolonialgeschichte der einstigen Grande Nation ist – wie so ziemlich in allen anderen Fällen – ein unaufgearbeitetes Stück Geschichte. Von den Atomtests der Franzosen in Polynesien in den 1960-er und 70-er Jahre gar nicht zu reden. Im Bikini-Atoll, ein paar Kilometer westlich, haben die Amerikaner lange das gleiche Spiel gespielt. Albert Serra ist aber nicht darauf aus, ein moralistisches Lehrstück über die Hybris alter Weltmächte zu machen. Dafür ist der Katalane zuviel Ästhet. Er inszeniert Tahiti als unbestimmten Raum irgendwo zwischen Diesseits und Jenseits, die Fassade eines Paradieses irgendwo in einem Zeit-Raum-Kontinuum, in dem Figuren umherwandeln, wie sie nur Albert Serra zu zeichnen weiß. Mit seiner Regie bezwingt er auch – und zum zweiten Mal in Folge – eines der Biester des französischen Kinos. Nach Jean-Pierre Léaud in La mort de Louis XIV nun Benoît Magimel, der mit Mon-sieur De Roller die Rolle innehat, die seine Karriere definieren wird. Wie eine schmierige Variation auf Lynchs Dale Cooper in Twin Peaks bewegt er sich durch ein verlorenes Paradies. Der von Neonlichtern durchflutete Club, in dem hypnagogisch anmutende und Hula-Musik die Playlists ausmachen, ist Serras Black Lodge und die atomare Gefahr bleibt eine abstrakte, nicht so wie in der dritten Staffel von Twin Peaks. Der Horror der von den 1950-ern besessenen Regisseuren ist für den Katalanen Katalysator für ein ewiges Hörensagen, versteckte Machenschaften und Verschwörungen. Pacifiction – Tourment sur les îles ist ein Polit-Thriller. Aber nicht, wie ihn Robert Redford in den 1970-ern gedacht hätte, sondern einer, den sich Apichatpong Weerasethakul ausdenken könnte. Bei allen soeben genannten Filmemachern liegen die Spären der Lebenden und der Toten immer sehr nah beieinander und sind oft nicht zu unterscheiden. Bei Lynch ist es psychologische Traumdeutung, beim thailändischen Regisseur ist Spiritualität das Stichwort, bei Serra ist alles rosarotes Theater. Die Bilder sind an den Rändern – aber nicht nur – wie die Protagonisten verwaschen glatt und man schlittert mit De Roller durch diese paradiesische Hölle. Ob man dabei einschläft oder nicht – das Nickerchen im Kino ist stark unterschätzt! –, Pacifiction ist Kino in seiner allerreinsten Form. Wenn das Kino mit einem atomaren Fallout enden sollte, dann wäre die letzte Stunde dieses Meisterwurfes von Albert Serra ein angemessenes Auf Wiedersehen. Allein schon wegen einer Szene mit Magimel im weißen Anzug, wellenreitend auf einem Jetski, die einem in nur wenigen Augenblicken sprichwörtlich den Atem raubt, lohnt sich die Eintrittskarte.

Tom Dockal
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