Schon vor Beginn der Corona-Krise war das Armutsrisiko in Luxemburg erneut gestiegen. Immer häufiger sind auch Beschäftigte betroffen. Zuverlässige Daten für das Krisenjahr 2020 liegen noch nicht vor

Arbeit schützt vor Armut nicht

d'Lëtzebuerger Land vom 23.04.2021

Vor Corona Seit Beginn der Coronakrise wird immer wieder von verschiedenen Akteuren aus dem sozialen Sektor darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen einen Anstieg des Armutsrisikos und der sozialen Ungleichheit zur Folge hätten. Ausführliche Studien und Daten dazu liegen bislang aber weder in Luxemburg, noch auf europäischer Ebene vor. Auch das am Mittwoch vorgestellte elfte Sozialpanorama der Salariatskammer (CSL), das sich vor allem auf Datenbanken von Statec und Eurostat beruft, bildet da keine Ausnahme. Anders als bei den oft unzuverlässigen wirtschaftlichen Voraussagen zu Wachstum und BIP dauere die Datenerhebung im sozialen Bereich wohl wesentlich länger, bemängelte CSL-Direktor Sylvain Hoffmann. Die einzigen Daten, über die die CSL für das vergangene Jahr schon verfügt, sind die der kommunalen Sozialämter und der Sozialläden von Caritas und Croix-Rouge sowie die Arbeitslosenzahlen der Adem und die subjektiven Einschätzungen, die die CSL zwischen Juni und September 2020 im Rahmen ihres Quality of Work Index erhoben hat.

Letzterer hat gezeigt, dass die Qualität der Arbeit vergangenes Jahr nur noch bei 53,5 Punkten (von maximal 100) liegt und damit gegenüber 2019 um zwei Punkte zurückgegangen ist. Damit erreicht der Quality of Work Index seinen niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2014. Trotz (oder gerade wegen) Homeoffice sind sowohl die Zufriedenheit und die Motivation am Arbeitsplatz als auch das allgemeine Wohlbefinden gegenüber dem Vorjahr um rund zwei Punkte gesunken. Gleichzeitig stiegen die Konflikte zwischen Privat- und Berufsleben, die Zahl der Burnouts und der (physischen) Gesundheitsprobleme an. Insbesondere beim emotionalen Wohlbefinden und beim Risiko, an Depressionen zu erkranken, beobachtete die CSL 2020 eine wesentliche Verschlechterung. Detaillierte Gründe für diese Entwicklung gehen aus dem Sozialpanorama nicht hervor.

Anders als man wegen Covid-19 annehmen könnte, sind die finanziellen Hilfen, die 2020 von den Sozialämtern ausgezahlt wurden, gegenüber 2019 leicht zurückgegangen. Diese vermeintlich positive Entwicklung, die dem mittelfristigen Trend der vergangenen Jahre entgegenläuft, führt die CSL darauf zurück, dass die Sozialämter während des Lockdowns teilweise geschlossen hatten und die Menschen demnach keine Hilfen beantragen konnten. Anders ist der Trend bei den Sozialläden, wo die Anzahl der Kund/innen seit 2017 leicht rückläufig war, 2020 aber wieder etwas angestiegen ist.

Alle anderen „neuen“ Datenbanken, die die CSL zur Erstellung ihres Sozialpanoramas 2021 benutzte und am Mittwoch vorstellte, beziehen sich auf das Jahr vor Beginn der Coronakrise und sind daher vor allem im Rahmen einer mittel- bis langfristigen Betrachtung interessant. Eine Entwicklung, die sich seit Jahren in Luxemburg abzeichnet, ist der Anstieg der sozialen Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient, der die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ausdrückt, sei seit 2005 kontinuierlich (um insgesamt 1,4 Prozent) gestiegen und liege seit 2018 erstmals über dem Durchschnittswert der Eurozone, erklärte Félix Martins De Brito, volkswirtschaftlicher Berater der Geschäftsleitung bei der CSL. Zwischen 2018 und 2019 habe sich der Gini-Koeffizient in Luxemburg noch einmal um 3,2 Prozent erhöht, während er in der Eurozone um ein Prozent gesunken sei. Die Tendenz steigender Ungleichheit wird auch durch die Unterschiede in den verschiedenen Einkommensklassen deutlich. So erhielt das reichste Zehntel 2019 über neun Mal mehr vom nationalen Einkommen als das ärmste Zehntel der Haushalte. Zwischen 2005 und 2011 seien es nur sechs bis sieben mal mehr gewesen, heißt es im Sozialpanorama. Ähnlich ungleich verteilt seien auch die Entwicklungen bei der Kaufkraft, selbst wenn diese 2019 in den unteren Einkommensschichten (nach einem Sprung im Jahr 2017 und einem Einbruch im Jahr 2018) wieder leicht gestiegen sei. Trotzdem sei der Anstieg der Kaufkraft in den oberen Einkommensschichten fast doppelt so hoch wie in den unteren.

Armutsrisiko Diese ungleiche Entwicklung wirkt sich laut CSL auf das Armutsrisiko aus, das seit 2005 von 13,7 auf 17,5 Prozent (nach Sozialtransfers und Renten) im Jahr 2019 gestiegen ist. Die Sozialtransfers spielen in Luxemburg zwar weiter eine wichtige Rolle beim Schutz vor Armut, ihre Bedeutung sei in den vergangenen Jahren aber leicht zurückgegangen, erläuterte Martins. Vom Armutsrisiko betroffen sind in Luxemburg insbesondere alleinerziehende Haushalte mit Kindern. In diese Kategorie weist Luxemburg mit 41,3 Prozent den dritthöchsten Wert in der Eurozone auf (hinter Malta und Litauen).

Hinlänglich bekannt ist, dass die steigenden Wohnungspreise insbesondere für ärmere Haushalte immer mehr zur Last werden. Das nationale Statistikamt Statec hat bereits mehrmals auf diesen Notstand hingewiesen. Auch die CSL bemängelt nun, dass Wohnen für über 35 Prozent der Haushalte zur finanziellen Belastung geworden ist. Bei den armen Haushalten seien es sogar fast 60 Prozent. Betroffen sind vor allem Mieter/innen, die fast ein Drittel ihres Einkommens (32 Prozent) für Wohnen ausgeben. Nur in Spanien ist dieser Anteil noch etwas höher. In der gesamten Eurozone wenden die Haushalte durchschnittlich lediglich ein Viertel ihres Einkommens für Miete auf.

Im europäischen Mittelfeld liegt Luxemburg bei der Arbeitslosenquote. Während der Anteil der Arbeitssuchenden an der Gesamtbevölkerung nach dem Lockdown im März 2020 auf fast sieben Prozent angestiegen war, ist er inzwischen wieder auf 6,1 Prozent gesunken. Damit liegt die Arbeitslosenquote zwar höher als noch vor der Pandemie, doch in den vergangenen Monaten hat sich ein leicht positiver Trend abgezeichnet. Positiv stimmt die Gewerkschafter/innen von der CSL auch, dass 2020 in Luxemburg mehr Jobs geschaffen wurden, als allgemein in der Eurozone. Neben Luxemburg ist nur in Belgien und Malta das Jobangebot während der Krise gewachsen. Sorgen bereitet der CSL aber die Entwicklung bei den Langzeitarbeitslosen. Menschen mit einer Behinderung oder einer Beeinträchtigung stellen 90 Prozent der Langzeitarbeitslosen. Die Regierung müsse Anstrengungen unternehmen, um diese Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, fordert die CSL.

Working Poor Dass Arbeit nicht unbedingt vor Armut schützt, zeigt der überdurchschnittlich hohe Anteil der sogenannten Working Poor. In Luxemburg leben rund zwölf Prozent der Beschäftigten an der Armutsgrenze. Dieser Wert ist der höchste in der gesamten Eurozone. Obwohl das Verhältnis an befristeten Arbeitsverträgen und Teilzeitjobs in Luxemburg insgesamt noch relativ gering ist, sind laut CSL 18,9 Prozent der Teilzeit- und zehn Prozent der Vollzeitbeschäftigten vom Armutsrisiko betroffen. Damit liege Luxemburg über dem Durchschnitt der Eurozone. Die CSL führt diese Misslage vor allem auf den gemessen an den Lebenshaltungskosten vergleichsweise niedrigen Mindestlohn zurück. Während der Brutto-Mindestlohn sich noch 15 Prozent über der Schwelle zum Armutsrisiko ansiedelt, liegt der Netto-Mindestlohn knapp (1,2 Prozent) unter dieser Schwelle. Von Teilzeitarbeit sind in Luxemburg vor allem Frauen betroffen. In keinem europäischen Land arbeiten mehr Frauen in Teilzeit (82,1 Prozent) als im Großherzogtum.

Der CSL-Vizepräsident und frühere CSL- und OGBL-Vorsitzende Jean-Claude Reding, der die aktuelle CSL- und OGBL-Präsidentin Nora Back am Mittwoch vertrat, äußerte eine Reihe von Forderungen an die Regierung. Die meisten dieser Forderungen standen aber im Zusammenhang mit der Coronakrise und hätten mit einer solideren und aktuelleren Datengrundlage sicherlich mehr Gewicht gehabt. So verlangte Reding, dass die Regierung in ihrem Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung, den sie in den kommenden Wochen bei der EU-Kommission einreichen wird, die starken sozialen Sicherheitsmaßnahmen Luxemburgs aufrechterhalten müsse. Die staatlichen Corona-Hilfen für Betriebe und Beschäftigte müssten solange beibehalten werden, bis die Wirtschaft wieder „normal“ funktioniere. Besonderes Augenmerk müsse den Frauen gelten, die einem höheren Armutsrisiko als Männer ausgesetzt seien.

Mittel- bis langfristig forderte Jean-Claude Reding von DP, LSAP und Grünen eine „Investitionspolitik“, die die Schwächen des Gesundheitssystems ausbessere. Covid-19 habe gezeigt, dass Luxemburg nicht nur einen Mangel an Material wie etwa Herz-Lungen-Maschinen, sondern auch an medizinischem Fachpersonal hat. Diese Unterversorgung sei nur durch massive Investitionen in den Griff zu bekommen.

Die zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft werde Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben, führte Reding aus. Möglicherweise würden Stellen verschwinden, in jedem Fall würden sich aber die Jobprofile ändern. Deshalb müsse nun vermehrt in Weiterbildung investiert werden, fordert die CSL, die mit dem Lifelong Learning Center eines der größten Institute in diesem Bereich betreibt.

Großregion Nicht zuletzt sei es wichtig, die ökologische Transition zu fördern sowie die lokale und regionale Wirtschaft zu stärken, sagte Reding. Dies sei nur möglich, wenn die Regierung in die Groß-region investiert und grenzüberschreitende Projekte umsetzt. Luxemburg sei in hohem Maße auf Grenzpendler/innen angewiesen, daher müsse man diese Debatte verstärken. Auch die CSL selbst will künftig ihre Erkenntnisse aus dem Sozialpanorama mit ähnlichen Erhebungen aus der Großregion in Verhältnis setzen. Ein erster Versuch in diesem Jahr hat ergeben, dass Luxemburg seinen Nachbarregionen in manchen Bereichen hinterherhinkt. In den deutschen Bundesländern Rheinland-Pfalz und Saarland war die Beschäftigungsquote 2019 mit 76,5 bzw. 73,6 Prozent höher als im Großherzogtum (67,9). Die Arbeitslosenquote war mit 2,8 bzw. 3,7 Prozent wesentlich niedriger. Während das Armutsrisiko im Saarland in etwa dem Luxemburgs entspricht, ist es in Rheinland-Pfalz um über zwei Prozent niedriger. Lothringen und Wallonien schneiden indes in allen Bereichen schlechter ab als Luxemburg, das immerhin die wenigsten Langzeitarbeitslosen und (zusammen mit dem Saarland) die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Großregion hat.

Luc Laboulle
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