Eine Studie der Uni Luxemburg untersucht Arbeit und Wirkungsweisen der 30 Sozialämter im Land. Eine Reform des Sozialhilfegesetzes plant die Regierung nicht. Vorerst nicht

Sozialämter auf dem Prüfstand

Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 29.03.2019

„Ich frage nicht gerne nach Unterstützung. Wer tut das schon?“ So lautete die schüchtern und mit nervös knetenden Händen vorgetragene Antwort einer Besucherin der Düdelinger Maison sociale, die das Land vor zwei Jahren zu ihrem Besuch in dem Sozialamt befragt hatte und die bereit war, aus ihrem Leben zu erzählen. Obwohl die ehemalige Putzfrau, die Invalidenrente bezieht, einen Anspruch auf Hilfe hat, ist die 60-jährige Düdelingerin nicht die einzige, die Scham beim Gang zum örtlichen Sozialamt empfindet.

Das jedenfalls legt die 260 Seiten umfangreiche Analyse der Uni Luxemburg Die Offices Sociaux in Luxemburg aus Sicht der AkteurInnen und AdressatInnen nahe, die Montag vor zwei Wochen mit Verzögerung Abgeordneten der parlamentarischen Familienkommission vorgestellt und für die neben Sozialarbeitern und Amtsleitungen 209 Hilfsbedürftige per Fragebögen befragt wurden. Viele gaben an, erst dann das Sozialamt aufgesucht zu haben, als ihre Probleme bereits sehr groß waren. Die Mehrheit war überzeugt, dass das Amt, trotz umfassender Reform und Professionalisierung, in der Bevölkerung immer noch vorrangig als Armenbüro wahrgenommen wird.

Die Befragung von Antragstellern per Fragebogen und in vertiefenden Interviews ist Teil der Studie, die das Familienministerium 2016 in Auftrag gegeben hat und die die Instrumente, Wirkungsweise und Rechtsbasis der Sozialhilfereform von 2009 auf die 30 Sozialämter im Land untersuchen sollte. Er ist nicht repräsentativ, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass die Forscher um Studienleiter Helmut Willems nicht auf eine zentrale Datenbank der Antragsteller zugreifen konnten, sondern die Fragebögen an die einzelnen Sozialämter verschickten und keine Kontrolle über die Stichprobe hatten.

Scham und Angst vor Stigmatisierung nannten auch Menschen, die das Land vor dem Solidaritätsfonds oder vor der Stëmm vor der Stroos befragte hatte, während sie in der Schlange standen, um sich Geld (garantiertes Mindesteinkommen, RMG, heute Revis) oder eine warme Mahlzeit zu holen. Was die Frage aufwirft, wie viele, die eigentlich Anspruch auf Hilfe hätten, diese auch beantragen. Denn das war eine zentrale Änderung der Reform des Sozialhilfegesetzes 2009 unter CSV und LSAP: Dass jede/r jede Bürger/in in Not erstmals ein Recht auf Hilfe bekommen sollte, um trotz Notalge menschenwürdig leben zu können. Außerdem sollten mit der Reduzierung auf 30 statt bisher 116 regionalen Sozialämtern Kräfte und Ressourcen besser gebündelt und die Sozialehilfe professioneller werden.

Das Ziel scheint weitgehend erreicht, liest man die Untersuchungsergebnisse der Uni: Haben sich Unentschlossene einmal aufgerafft und ihren Mut zusammengenommen, wurden ihre Anträge auf dem Amt in der Regel zügig bearbeitet. Die jeweilige Sacharbeiterin nahm sich ausreichend Zeit, um zu prüfen, wo der Schuh genau drückt, und angemessene Hilfe zu finden. Das Sozialamt funktioniert in dem Sinne als erste Anlaufstelle, wie ein guichet unique für Sozialfragen, und als letztes Auffangnetz zugleich: Hier sollen Menschen individuell Beratung, Information und Unterstützung finden, die anderswo keine Hilfe bekommen haben oder nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Derer gibt es im Land immer mehr: Mit dem Bevölkerungswachstum steigt auch die Zahl der Hilfesuchenden. Die Tätigkeitsberichte vieler Sozialämter im Land verzeichnen einen Trend nach oben, vor allem bei den Beratungen. Rund ein Viertel der Antragstellenden nimmt finanzielle Hilfe in Anspruch, wobei die Probleme, mit denen sie ins Amt kommen, komplexer sind.

Eine der häufigsten Ursachen, warum Frauen und Männer Hilfe beanspruchen, ist die anhaltende Wohnungsnot, die nicht selten weitere existenzielle Probleme zur Folge hat, etwa wenn eine alleinerziehende Mutter fast 80 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben muss und kaum Geld zum (Über-)Leben für sie und ihr Kind übrigbleibt. Andere geraten in finanzielle oder soziale Schwierigkeiten durch plötzliche Lebenskrisen, aus der sie ohne externe Hilfe nicht wieder herausfinden, sei es durch Trennung oder Scheidung oder weil sie arbeitslos geworden sind. Wieder andere haben ihr Leben lang gearbeitet und doch reicht das Einkommen kaum zum Lebensunterhalt und zu einem menschenwürdigen Leben, wie es das Recht eines jeden laut Gesetz ist (working poor). Auch Verschuldung und psychische und körperliche Probleme sind oft Anlass, Hilfe zu suchen. Befürchtungen, wegen ihrer Notlage schief angeschaut zu werden, bewahrheiteten sich eher nicht: Von den 209 anonym Befragten empfand die große Mehrheit den Empfang und Umgang im Amt als freundlich und respektvoll. Nur vereinzelt gab es Kritik am Umgangston. Auch hinsichtlich der bewilligten Leistungen ist die Zufriedenheit allgemein groß. Diese reichen von finanziellen Leistungen, etwa für Mieten und Kautionen oder für Kleider oder Möbel, über Beratungsgespräche zur Gesundheitsversorgung, zur beruflichen Wiedereingliederung oder zum Aufenthaltsstatus. In manchen Sozialämtern können auch Suchtkranke erste Kontakte für weitere Hilfen finden. Entsprechend breit gefächert muss das Wissen der Sachbearbeiter/innen sein.

Auf der anderen Seite des Schalters, bei den befragten Sozialarbeitern, fällt das Bild über die Betreuungszeit gemischter aus: Etwas mehr als die Hälfte (54,4 Prozent) gab an, ausreichend Zeit zu haben, um alle jobbezogenen Aufgaben sachgerecht zu erledigen. 45,6 Prozent gaben indes an, nicht genügend Zeit zu haben. Im Durchschnitt dauerte ein Beratungsgespräch etwa 43 Minuten, wobei einfache Anfragen in 15 Minuten geregelt wurden und aufwändigere Fälle bis zu 90 Minuten brauchten. Häufig geäußerte Klage seitens der SachbearbeiterInnen: Sie verbrächten zu viel Zeit damit, Berichte und Anträge zu schreiben. Dass die 30 Sozialämter im Land nicht alle dasselbe informatische System benutzen, habe zudem zur Folge, dass statistische Sozialhilfedaten landesweit nur bedingt vergleichbar seien, weil sich die Art und Weise der Dokumentation je nach Sozialamt und Region unterscheiden kann.

Weil das Gesetz von 2009 in verschiedenen Punkten nicht präzise formuliert ist, haben die Ämter Handlungs- und Interpretationsspielraum – den sie nutzen und der teils zu unterschiedlichen Hilfeleistungen führt. So gibt es Sozialämter im Land, die selbst keine Leistungen auszahlen, sondern Bedürftige an andere Dienste überweisen, während andere für Notlagen Geld vorstrecken können. In manchen Ämtern können die Sozialarbeiter finanzielle Nothilfen bis zu einer bestimmten Summe auszahlen, in anderen obliegt diese Entscheidung dem ehrenamtlichen Verwaltungsrat. Die Frage ist indes, wie sich das mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbaren lässt: Je nach Wohnort riskiert ein Bürger, eine Bürgerin nicht dieselbe Beratungsqualität und vielleicht nicht dieselben Hilfen vorzufinden. Ein Ergebnis, das politisch nicht ohne Brisanz ist.

Darauf, dass es regionale Unterschiede zwischen den Ämtern, ihrer Ausstattung und Arbeitsweise gibt, hatten ExpertInnen, hatte die Entente des Offices Sociaux, der Dachverband der Sozialämter, in der Vergangenheit wiederholt hingewiesen. Als unteren Grenzwert sieht das Gesetz von 2009 mindestens einen Sozialarbeiter sowie einen halben administrativen Posten auf 6 000 Einwohner vor. Die Gemeinden sollen autonom über die Ausgestaltung ihres Hilfsangebots entscheiden, das Gesetz ist als Rahmen gedacht, der Mission, Aufgaben und Instrumente festlegen soll.

Eine Zentralisierung der Sozialhilfe wurde damals mit dem Argument abgelehnt, besser vor Ort und nahe an den Bedürfnissen der KlientInnen wirken zu können. Im Ergebnis bedeutet dies, das zeigt die wissenschaftliche Studie, dass teilweise unterschiedliche Interpretationen und Praktiken in den Ämtern vorherrschen. Im Vorteil scheinen Gemeinden, die sich früh Gedanken zur Umsetzung der Reform gemacht haben: Im Norden, im Verbund Resonord, haben sich mehrere Gemeinden zusammengeschlossen, um Kräfte zu bündeln, in Esch-Alzette wurde früh mit dem Aufbau eines entsprechenden Informatiksystems begonnen.

Die grundsätzliche Herangehensweise ist landesweit dieselbe: In einem persönlichen Gespräch versuchen sich die Sachbearbeiter zunächst ein Bild über die Lage eines Hilfesuchenden zu verschaffen. Dann wird gemeinsam ein Hilfeplan aufgestellt und gegebenenfalls Unterstützung von anderen Diensten angefordert. Hilfe kann mit der Auflage verbunden sein, sich aktiv an angebotenen Maßnahmen zu beteiligen, oder eine Vorschuss zurückzuzahlen; diesen Ermessenspielraum haben die Ämter und den nutzen sie auch.

Entscheidungen über größere finanzielle Hilfen trifft der Verwaltungsrat, der sich aus mindestens fünf Ehrenamtlichen zusammensetzt. Sie können, aber müssen nicht Vorkenntnisse und Berufserfahrung in der Sozialen Arbeit haben, etwas, das im Sektor gemischt bewertet wird: Positiv, weil mit der Einführung der Verwaltungsräte die alte Entscheidungsgewalt des Bürgermeisters aufgehoben und ein oft existenziell wirkender Beschluss auf mehrere Schultern verteilt wurde. So soll Willkür und Vetternwirtschaft ein Riegel vorgeschoben werden. Ob das immer funktioniert, ist unklar: Das Ehrenamt hat den Nachtteil, dass sich nicht immer Freiwillige finden, die Verantwortung tragen wollen und Zeit haben. Teils übernehmen Vertrauenspersonen der Gemeindeführung die Aufgabe.

Schließlich führen fehlende Vorgaben zur Professionalität, zur Arbeitsmethode und Weiterbildung mitunter zu unterschiedlichen Einschätzungen und wirken, im schlimmsten Fall, frustrierend und demotivierend, wenn beispielsweise ein Sozialarbeiter einen Fall anders bewertet als sein Verwaltungsrat oder Präsident/in. Manche richten sich an das Familienministerium in der Hoffnung, dort Klärung und Unterstützung bei der Lösung komplexer oder strittiger Fälle zu bekommen. Doch in den Interviews mit dem Personal wird deutlich: Auch das Ministerium kann diese Antworten oft nicht liefern, weil es dafür selbst keine Richtlinien entwickelt hat.

Diese Schwierigkeiten leugnet das Ministerium, nicht, ohne deshalb in Grundsatzkritik zu verfallen. „Der Spielraum war vom Gesetzgeber gewollt“, sagt Dominique Faber, Erste Regierungsrätin im Familienministerium. Ebenso die Heterogenität bei den Entscheidungsträgern. „Unterschiedliche Blickwinkel sind wertvoll.“ Ein gewisser Interpretations- und Handlungsspielraum sei auch deshalb wünschenswert, da die Entscheidungen „inviduelle Menschen“ beträfen. „Das sind Einzelschicksale, die man nicht über einen Kamm scheren soll. Das ist nicht wie bei der Leistungs-Nomenklatur der CNS“, sagt Faber, die zudem Präsidentin des Solidaritätsfonds ist. Grundsätzlichen Reformbedarf sieht Familienministerin Corinne Cahen (DP) nach einer ersten Analye der Daten nicht, sagt Faber dem Land. Das Sozialhilfegesetz habe sich bewährt, die Zufriedenheitheit bei den Klienten sei insgesamt „sehr groß“ und auch bei den Sozialarbeitern stoße die Rechtslage grundsätzlich auf Akzeptanz.

Bei der Vorstellung im zuständigen Parlamentsausschuss vor zwei Wochen will die hohe Beamtin Diskussions- und Reflexionsbedarf erkannt haben, aber „kein Bedarf, das Gesetz zu reformieren“. Bei der Opposition klingt das vorsichtiger: Er wolle die Ergebnisse erst lesen, sagt Marc Spautz dem Land. Der CSV-Abgeordnete und seine Parteikollegen fordern, die Analyse als nächstes mit den Autoren zu diskutieren. Die Wissenschaftler waren bei der Vorstellung vor zwei Wochen nicht zugegen gewesen; die Studie war auf die Tagesordnung gesetzt worden, nachdem die CSV auf eine Veröffentlichung gedrängt hatte. Die Verspätung liegt, wie es scheint, an beiden Seiten: Die mit 290 000 Euro veranschlagte erste empirische Untersuchung zur Luxemburger Sozialhilfe überhaupt war nicht zum in der Konvention zwischen Ministerium und Uni vereinbarten Termin vom 1. März 2018 fertig geworden, sondern erst im vergangenen September. Dann jedoch standen Parlamentswahlen an und erst jetzt, ein Jahr später, waren sämtliche Korrekturen und Änderungen eingearbeitet.

Bisher will sich das Ministerium nicht auf einen Fahrplan mit präzisen Terminen und Treffen festlegen. Faber verweist auf eine Motion, wonach das neue garantierte Mindesteinkommen (Revis) nach drei Jahren ebenfalls evaluiert werden soll und betonte, man werde mit der Entente des Offices Sociaux über die weitere Vorgehensweise beraten. Einige Pisten nennt sie doch: Mitarbeiter der Sozialämter hatten sich für mehr Fortbildungen ausgesprochen, und auch über die Notwendigkeit, Leitfäden sowie einheitliche Regeln zur (digitalisierten) Dokumentation zu bestimmen, scheint im Sektor Konsens zu bestehen. „Dafür brauchen wir aber kein Gesetz“, so Faber.

Ines Kurschat
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